Terror
Leutnant Irving große Mengen an Robbenfleisch, einiges an Robbenhaut und reichlich Speck zu sich genommen. Der Verdauungsvorgang hatte noch kaum eingesetzt.
Die Eskimos haben ihm zu essen gegeben, bevor sie ihn ermordeten.
Oder vielleicht hat Leutnant Irving sein Fernrohr, die Tasche und andere persönliche Habe gegen das Robbenfleisch und den Speck getauscht.
Doch das kann nicht seyn, da der Kalfaterersmaat Hickey beobachtet hat, wie die Eskimos den Leutnant ermordeten und ihn ausraubten.
Robbenfleisch und Fisch befanden sich auch auf dem Eskimoschlitten, auf welchem Mr. Farr den Leichnam des Leutnants hierher transportirt hat. Farr berichtete, daß sie andere Gegenstände wie Körbe und Kochgeschirr, welche über dem Robbenfleisch und Fisch festgebunden waren, wegwarfen, um die Leiche besser auf den leichten Schlitten legen zu können. »Damit Leutnant Irving so bequem wie möglich liegt«, ergänzte Sergeant Tozer.
Die Eskimos mußten ihm also ihr Essen angebothen und ihm soviel Zeit gelassen haben, daß er es verzehren und daß sogar die Verdauung beginnen konnte. Danach packten sie ihren Schlitten wieder voll und fielen in heimtückischer Weise über ihn her.
Jemanden als Freund zu empfangen und ihn dann auf solche Weise zu ermorden und zu verstümmeln – ist denn eine Rasse vorstellbar, welche zu einer solchen Niedertracht, Grausamkeit und Barbarey fähig wäre?
Was könnte die Eingeborenen zu einem derartigen Wandel ihres Verhaltens veranlaßt haben? Hat der Leutnant durch ein falsches Wort oder eine Handlung gegen ihre heiligen Tabus verstoßen? Oder wollten sie ihn einfach ausrauben? War das Messingfernrohr der Grund für Leutnant Irvings schrecklichen Tod?
Es gibt noch eine andere Möglichkeit, welche mich aber so abscheulich und unwahrscheinlich dünkt, daß ich mich kaum überwinden kann, sie in meinem Tagebuche zu vermerken.
Leutnant Irving wurde gar nicht von den Eskimos getödtet.
Jedoch ergibt auch dieses keinen Sinn. Der Kalfaterersmaat Hickey hat klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er gesehen hat, wie sechs
bis acht Eingeborene den Leutnant angriffen. Er hat gesehen , wie sie die Tasche, das Fernrohr und das andere Eigenthum des Leutnants stahlen, wenngleich es befremdlich anmuthen muß, daß sie seine Pistole nicht gefunden und auch seine anderen Taschen nicht durchsucht haben. Vor wenigen Stunden erst berichtete der Kalfaterersmaat in meinem Beiseyn dem Capitain Fitzjames, daß er, Hickey, aus der Ferne mit angesehen habe, wie die Wilden unseren Freund verstümmelten.
Hickey hielt sich versteckt und beobachtete heimlich die grausame That.
Draußen herrscht noch immer stockfinstere Nacht und eisige Kälte, doch schon in zwanzig Minuten will Capitain Crozier mit einigen wenigen Männern zum Schauplatz des Mordes und des tödtlichen Scharmützels mit den Eskimos aufbrechen. Es ist zu vermuthen, daß ihre Leichen noch in jenem Thale liegen.
Es ist vollbracht, Leutnant Irvings Bauchhöhle ist wieder verschlossen. Bleyerne Müdigkeit hält mich umfangen, da ich seit über vierundzwanzig Stunden kein Auge zugethan habe. Ich werde es Lloyd überlassen, den Leutnant anzukleiden und mit den letzten Vorbereitungen für die Bestattung zu beginnen. Wie es das Schicksal will, hat Irving in dem Seesack mit seinem persönlichen Eigenthum auch seine Galauniform von der Terror mitgebracht. In diesem Gewande wird er nun seine letzte Ruhe finden.
Ich begebe mich jetzt zu Capitain Crozier, um ihn zu fragen, ob ich ihn, Leutnant Little, Mr. Farr und die anderen zum Ort des Verbrechens begleiten darf.
40
Peglar
69°37′42′′ NÖRDLICHE BREITE | 98°40′58′′ WESTLICHE LÄNGE 25. APRIL 1848
D er Nebel verzog sich, und etwas, das aussah wie ein übergroßes menschliches Gehirn, schien sich aus dem gefrorenen Boden zu erheben: grau, verschlungen, in sich zusammengerollt, glitzernd vom Eis.
Harry Peglar erkannte, dass er auf John Irvings Eingeweide starrte.
»Das ist die Stelle«, bemerkte Thomas Farr überflüssigerweise.
Peglar war ein wenig überrascht gewesen, als ihm der Kapitän befohlen hatte, ihn zum Ort des Verbrechens zu begleiten. Schließlich hatte der Vortoppmann zu keinem der beiden an den Ereignissen beteiligten Trupps gehört.
Dann hatte Peglar einen Blick auf die anderen Männer geworfen, die sich im Dunkeln zu dieser Erkundungsfahrt versammelt hatten: der Erste Leutnant Edward Little, der Bootsmann Tom Johnson, der Crozier schon bei seiner
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