Terror
Goodsir, der mit bloßen Händen arbeitete, mit einem kleineren Instrument den Magen, nahm den Inhalt heraus und knetete durch die gefrorenen Brocken, als würde er etwas Bestimmtes suchen. Manchmal brach der Arzt den gefrorenen Mageninhalt mit einem hörbaren Knacken in kleinere Stücke. Nachdem er die ersten drei Leichen untersucht hatte, wischte er sich nachdenklich die Hände im Schnee ab und streifte sich seine Fäustlinge über. Dann flüsterte er Crozier erneut etwas ins Ohr.
»Sie können das gerne laut sagen.« Der Kapitän blickte in die Runde. »Ich will, dass es alle hören.«
Der Arzt leckte sich über die aufgesprungenen, blutenden Lippen. »Heute Morgen habe ich Leutnant Irvings Magen geöffnet …«
»Was?«, rief Hodgson. »Das war einer der wenigen Körperteile von John, die diese verdammten Wilden nicht verstümmelt haben. Wie kommen Sie dazu …«
»Ruhe!« Wie durch ein Wunder schien Crozier wieder zu seinem alten Befehlston zurückgefunden zu haben. Der Kapitän nickte dem Arzt zu. »Fahren Sie bitte fort, Dr. Goodsir.«
»Leutnant Irving hat so viel Robbenfleisch und -speck gegessen, dass er buchstäblich voll war. So eine Mahlzeit hat keiner von uns in den letzten Monaten bekommen. Zweifellos stammte das Essen von den Eskimos. Nun wollte ich herausfinden, ob die Eskimos zusammen mit ihm gegessen haben – ob am Inhalt ihres Magens zu erkennen ist, dass sie ebenfalls kurz vor ihrem Tod Robbenspeck zu sich genommen haben. Bei den dreien, die ich untersucht habe, trifft das offenbar zu.«
»Sie haben das Brot mit ihm gebrochen … ihr Fleisch mit ihm geteilt … und ihn dann umgebracht, als er gehen wollte?« Unterleutnant Thomas hatte sichtlich Mühe, das Gehörte zu begreifen.
Auch Peglar war verwirrt. Das ergab doch keinen Sinn – es sei denn, diese Wilden hatten ein ebenso launisches und verräterisches Temperament wie manche Eingeborenenstämme, denen er auf der fünfjährigen Reise mit der Beagle begegnet war. Wie gern hätte der Vortoppmann jetzt John Bridgens nach seiner Meinung zu der Sache gefragt.
»Meine Herren.« Croziers Worte richteten sich offensichtlich auch an die Seesoldaten. »Ich wollte, dass Sie das alle hören, weil ich vielleicht zu einem zukünftigen Zeitpunkt auf Ihr Wissen zurückgreifen muss. Aber ich möchte nicht, dass jemand anderes davon erfährt. Nicht, bevor ich es sage. Und es kann auch sein, dass es nie so weit kommt. Wenn jemand aus diesem Kreis
hier etwas ausplaudert – wenn Sie auch nur einer Menschenseele etwas verraten oder wenn es Ihnen im Schlaf über die Lippen kommt –, dann werde ich herausfinden, wer meinen Befehl missachtet hat, das schwöre ich bei Gott, und den Betreffenden auf dem Eis zurücklassen und ihm nicht mal einen leeren Topf zum Scheißen mitgeben. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
Die Männer brummten zustimmend.
Keuchend und schnaufend kam Thomas Johnson den Hügel herab. Ein wenig ratlos blickte er die mürrisch Schweigenden an.
»Haben Sie etwas gefunden, Mr. Johnson?«
»Ja, Kapitän. Spuren. Aber alte. Spuren nach Südwesten. Die zwei, die gestern geflohen sind – und auch die Leute, die zurück ins Tal gekommen sind, um die Anoraks und die Waffen zu holen –, müssen diesen Spuren gefolgt sein. Neue Fährten habe ich nicht gesehen.«
»Vielen Dank, Thomas.«
Um sie herum wirbelte der Nebel. Irgendwo im Osten hörte Peglar ein Knallen wie von großen Kanonen bei einem Seegefecht, aber dieses Geräusch hatte er in den letzten zwei Sommern schon oft vernommen. Es war ferner Donner. Im April. Bei Temperaturen von minus fünfzehn Grad.
»Meine Herren«, sagte der Kapitän, »wir haben heute noch eine Bestattung vor uns. Wollen wir uns auf den Rückweg machen?«
Auf dem langen Marsch zum Lager grübelte Harry Peglar über das Gesehene und Gehörte nach: die gefrorenen Eingeweide eines geschätzten Offiziers, die Leichen und das leuchtend rote Blut im Schnee, die verschwundenen Anoraks, Waffen und Geräte, Dr. Goodsirs grausige Untersuchung und schließlich Kapitän Croziers seltsame Äußerung, »vielleicht zu einem zukünftigen Zeitpunkt auf Ihr Wissen zurückgreifen« zu müssen, als würde er sie als Geschworene bei einem Gerichtsverfahren benötigen.
Peglar wartete schon ungeduldig darauf, all dies in sein Tagebuch einzutragen, das er schon so lange führte. Und er hoffte darauf, nach der Beerdigung mit John Bridgens reden zu können, bevor die Männer wieder in ihre Zelte und zu ihren
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