Tesarenland (German Edition)
weggelassen.
»Aber …« Kayla schnieft und wischt mit dem Ärmel ihrer Jacke über ihr Gesicht. Ich ziehe sie wieder an mich. Ich befürchte, dass jetzt das Gezeter losgeht, die Diskussionen, das Wüten.
Meine kleine Schwester kann ein fröhliches, freundliches und aufgewecktes Mädchen sein. Sie kann aber auch ganz anders, wenn ihr etwas nicht in den Kram passt. Dann bekommt sie richtige Zornattacken, schreit, trampelt herum und schlägt um sich. Einmal hat sie mich mit ihren kleinen Fäusten regelrecht traktiert, weil ich ihr nicht erlaubt habe, mit ihren Freunden zu spielen. Wir hatten damals ein schlimmes Unwetter, das sogar ein paar der kleinen Holzhütten zerstört hat. Ihr Misstrauen, was meine Fähigkeit Entscheidungen zu treffen betraf, hat zu Streit zwischen uns geführt. Das hat sich erst in den letzten Monaten geändert. Aber ich vermute, dass es eher daran lag, dass sie nachdem Mutter fort war, einfach keine Lust mehr gehabt hat, mit mir zu streiten.
»Du wirst nicht wieder hungern«, verspreche ich ihr. Wahrscheinlich ist das nicht einmal gelogen. Vielleicht wird sie gar nicht mehr lange genug leben, um wieder richtig Hunger zu verspüren. Die ganze Zeit rede ich mir ein, Kayla hat nur eine Grippe. Aber Luca hat recht. Warum sollten die Tesare Kinder mit einer Grippe töten? Sie würden in wenigen Tagen wieder gesund werden. Und ich darf den kleinen Samuel nicht vergessen, und wie er auf die Spritze reagiert hat.
»Und wir werden ganz viel Spaß haben«, fügt Luca hinzu. Er legt seinen Arm um Kayla und drückt ihr einen Kuss auf den Scheitel. Mein Herz macht einen Satz. Ich glaube, ich mag Luca.
Ich glaube, Kayla mag Luca auch. Sie sieht zu ihm auf, und selbst im Dunkeln kann ich ihre Augen leuchten sehen. Meine kleine Schwester himmelt Luca an.
»Dann beeilen wir uns .« Kayla kichert und schiebt uns vorwärts.
Ich bin erleichtert, weil Kayla kein Theater macht, und auch ein wenig neidisch auf Luca, weil er ihr Vertrauen so schnell erobert hat.
Wir laufen die ganze Nacht durch dichten Wald. Ein paar Mal müssen wir anhalten, weil Kayla die Kraft verlässt. Sie hustet schlimm und ich frage mich, ob es ein Fehler war. Ob es nicht besser gewesen wäre, sie am Morgen einfach in die Funktionshütte zu bringen. Aber ich wische diese Gedanken gleich wieder weg. Der Tod kann nicht besser sein. In mir keimt immer noch die Hoffnung, sie könnte wieder gesund werden. Warum sollte sie nicht wieder genesen. Sie war schon oft krank. Was sollte dieses Mal anders sein?
Die Spritze. Aber das wissen wir nicht. Alles , was wir mit Sicherheit wissen ist; die Tesare töten Kinder, die krank sind. Vielleicht hätten auch diese Kinder wieder gesund werden können, hätten die Tesare nicht eingegriffen. Nur deswegen sind wir auf der Flucht. Nur, damit Kayla diesem Schicksal entgeht. Nur, weil Mutter gesagt hat, in Freiheit hätte Vater wieder gesund werden können. Genau das will ich für Kayla.
Als die Dämmerung einsetzt, kommen wir endlich aus dem Wald heraus und stehen direkt vor einem großen See. Das Wasser ist dunkelgrün. Zum ersten Mal in unserem Leben sehen Kayla und ich Enten, lebende Enten. Sie gleiten auf dem Wasser dahin und machen quäkende Geräusche, als sie uns entdecken. Am Rand ist das Wasser zugefroren. Kayla wirft fasziniert ein paar Steine auf das Eis. Keine von uns hat jemals einen zugefrorenen See gesehen. Keine von uns hat je einen See gesehen.
»Frieren die Enten nicht ?«, will sie wissen. Sie schaut dabei Luca an, als wüsste sie, dass ich ihre Frage nicht beantworten kann. Auch ihr ist aufgefallen, wie gut Luca sich in der Natur auszukennen scheint.
Ohne ihn würden wir noch immer orientierungslos durch den Wald laufen, wahrscheinlich immer im Kreis. Aber er schien eine Richtung eingeschlagen und dieser war er unbeirrt gefolgt. Hier und da einen Blick hoch zum Himmel, wenn der Wald den Blick auf den Mond freigegeben hat und dann war er zügig weitergegangen. Einige Schritte, dann hat er Baumstämme befühlt, und wieder weiter.
»Ihre Federn sind mit einem Fett bestrichen, das lässt kein Wasser auf ihre Haut«, sagt er knapp. Er wirkt erschöpft. Seine Haare stehen wirr um seinen Kopf herum, das steht ihm. Er dreht sich ein paar Mal im Kreis, dann zeigt er in Richtung einiger kleiner Holzhäuser. »Wir müssen herausfinden, wo wir sind. Vielleicht gibt es dort irgendwo eine Straßenkarte.«
»Eine Straßenkarte, was ist das ?« Kayla hängt sich an Lucas Arm. Ein wenig
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