Tesarenland (German Edition)
wenn Mutter ihr Zöpfe gemacht hat. Als Mutter fortgeholt wurde, habe ich Kaylas Haare so kurz geschnitten wie meine, um mir die Arbeit zu sparen, außerdem habe ich nie aufgepasst, wenn Mutter Kaylas Haare geflochten hat. Kayla hat sich nie beschwert über meine Entscheidung.
Während sie sich anzieht, packe ich alles, was wir an Wasser und Nahrung noch in unseren Schränken haben in unsere Beutel. Kayla hat sogar noch einen Streifen ihres Trockenfleisches. Wenn uns die Flucht gelingt, werden wir Nahrung brauchen.
Dann stößt sie mit dem Fuß gegen ihre Waschschüssel. Sie poltert blechern über den Boden. Andrea, ein Bett weiter, regt sich unter ihrer Decke. Sie stöhnt verschlafen und schaut zu uns rüber. Ich lege einen Finger auf meine Lippen und zische: »Scht, Toilette.« Sie nickt und kuschelt sich wieder in ihr Kissen.
»Toilette ?«, fragt Kayla leise. Ich nicke und helfe ihr, ihre Schuhe zu binden. Meine Schwester ist nicht dumm und zeigt auf die Taschen, die ich gepackt habe und grinst. Trotzdem zieht sie sich fertig an und wendet sich zum Ausgang.
Auf Zehenspitzen schleichen wir uns aus der Hütte. Es ist stockfinster. Ich kann nicht weit sehen. Ich drücke mich an die Holzwand und bedeute Kayla es mir nachzumachen. Sie schiebt ihre Hand in meine und folgt mir. Ich kann zwar keinen der Tesare ausmachen, aber das heißt nicht, dass nicht einer in der Nähe ist. Ihre dunkelgrüne Haut, scheint sie in der Nacht fast unsichtbar werden zu lassen. Und wenn sie wirklich besser sehen und hören als wir, kann es sein, dass sie uns entdecken, noch bevor wir überhaupt ahnen, dass sie da sind.
Wir schaffen es bis hinter die Toilette, ohne Geräusche zu machen. Ich bin dankbar für den weichen Untergrund, auf dem sich die Kolonie befindet. Luca erwartet uns schon. Er lächelt Kayla an und bedeutet ihr noch einmal, nichts zu sagen. Er deutet den Hang hinauf und sie nickt. Spätestens jetzt scheint sie begriffen, was wir vorhaben. Sie muss uns blind vertrauen, denn sie folgt Luca ohne Anstalten zu machen, obwohl sie weiß, dort könnte irgendwo ein Lichtzaun sein. Ich bin stolz auf sie.
Es hätte auch anders laufen können. Sie hätte diskutieren können, sich wehren können. Aber sie zweifelt nicht an unseren Absichten, wenn doch hält sie sich bemerkenswert ruhig. Sie steigt einfach hinter Luca den Abhang hinauf, ohne Fragen zu stellen oder sich zu beschweren. Früher wäre das anders gelaufen. Als Mutter noch bei uns war, hat sie meine Entscheidungen und Handlungen immer infrage gestellt. Sie hat nur Mutter ihr Vertrauen geschenkt. In ihren Augen war ich in nichts so gut wie Mutter. Wahrscheinlich hat sie nicht einmal Unrecht gehabt. Gerade deswegen habe ich damit gerechnet, dass sie hinterfragt, was wir hier tun.
Den Abhang hinaufzuklettern, ohne Geräusche zu machen, ist schon schwieriger. Das Laub ist zu einer schlierigen Masse geworden, der Boden rutschig. Kleine gefrorene Erdbrocken und Steine machen uns den Aufstieg schwer. Ich klettere hinter Kayla her, so kann ich sie notfalls stützen, sollte sie ins Straucheln geraten.
Wir schaffen es bis zur Mitte ohne Zwischenfälle. Da kommt Luca ins Rutschen. Er kann sich nur schwer wieder fangen. Kayla stößt einen zischenden Laut aus, als Luca auf sie zu kommt. Sie hebt ihre Hand, schüttelt sie aus. Luca hat sie getreten, begreife ich. Ich wappne mich gegen den Schmerzensschrei, der folgen wird. Aber er kommt nicht. Sie ist so tapfer.
Als Luca oben ankommt, hilft er uns über den Rand. Wir legen uns alle drei auf den kalten Boden und schnaufen, mehr vor Aufregung, als vor Erschöpfung, denn so schwer war der Aufstieg nicht. Luca schaut zurück auf das Lager. »Alles ruhig«, flüstert er.
Kayla liegt schnaufend neben mir. Sie greift nach meiner Hand, ich verschränke meine Finger mit ihren. Wir warten bis Kaylas Atmung ruhiger geht. Ich will keinen Hustenanfall riskieren. Sie ist wohl die einzige von uns, für die die Kletterei wirklich anstrengend war. Einige Augenblicke, dann atmet Kayla ein paar Mal kurz durch und nickt Luca zu. »Okay«, flüstert sie.
Luca lässt uns kaum Zeit darüber nachzudenken, wie einfach es war bis hier herzugelangen. Er treibt uns dazu an, Steine und Tannzapfen zu sammeln. Mein Atem geht keuchend. Ich rechne damit, dass sie jeden Augenblick über den Rand kommen und ihre Speere auf uns abfeuern. In der Dunkelheit kann ich kaum etwas sehen, also muss ich tastend den Waldboden absuchen. Je länger das dauert, desto nervöser
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