Tesarenland (German Edition)
zu ihm zu knien.
»Woher weißt du das«, frage ich, denn ich habe noch nie von einer Wanderkarte gehört.
»Das steht hier oben .« Er zeigt auf ein paar Buchstaben am oberen Rand.
»Ich kann nicht lesen«, sage ich. Warum sollte ich es ihm verheimlichen, ich schäme mich nicht dafür. In Kolonie D muss man nicht lesen können.
Er blickt zu mir auf, ein paar Strähnen seiner wirren Haare haben sich über seine Augen gelegt. Er streicht sie mit einer flinken Bewegung weg. Kurz sehe ich Verwunderung in seinen Augen aufblitzen, aber dann nickt er. Er zeigt mit einem Finger auf einen Punkt der Karte, auf dem ich mehrere gekreuzte Striche sehe. Sie erinnern mich an Dächer. »Wir sind hier. Hier ist die Mine. Wir sind die ganze Nacht nach Westen gelaufen.«
Ich nicke einfach nur und tue so, als würde ich verstehen, was Luca mir da zeigt, aber eigentlich sehe ich nur grün und rot und gelb. Und dort, wo wir sind, gibt es einen länglichen blauen Fleck. »Was ist das ?«, frage ich.
»Der See gleich da draußen .«
Ah, denke ich. Grün für Wälder, blau für Wasser. Ich frage nicht weiter, wofür die anderen Farben stehen. Ich beobachte Luca, wie er sich über die Karte beugt, mit den Fingern die Linien abfährt und alles genau studiert. Schon in der Nacht im Wald habe ich bewundert, wie selbstsicher er sich bewegt hat, wie er sich am Mond orientiert hat. Er kam mir so anders vor, so als würde er jede Nacht durch Wälder streifen. Als würde er das schon sein Leben lang tun. Luca ist noch immer ernst, benutzt nach wie vor nur wenige Worte, aber er macht den Eindruck auf mich, als wäre er in dem, was wir hier tun zuhause.
»Wir müssen weiter nach Westen. Da ist eine Stadt, die scheint etwas größer zu sein. Dort könnten wir ein Funkgerät finden«, murmelt er mehr zu sich als zu mir.
»Was ist das und wozu brauchen wir es ?« Ich stehe auf und streife durch die Hütte. Sie ist nicht viel größer als unsere in Kolonie D, aber sie hat mehr Einrichtungsgegenstände. Viele Sachen kenne ich nicht, weswegen ich sie mal anfasse, einige untersuche ich auch genauer.
»Damit können wir Kontakt zu anderen aufnehmen, mit etwas Glück .«
»Mit etwas Glück«, murmele ich und frage nicht weiter nach, mit wem er Kontakt aufnehmen will. Da draußen ist niemand. Das sollte er genauso gut wissen wie ich. Einstweilen freue ich mich einfach, dass wir keine Gefangenen mehr sind. Zufrieden setze ich meinen Streifzug durch die Hütte fort. So haben die Menschen also gelebt, denke ich. Gar nicht viel anders als wir. Es gibt natürlich unbekannte Dinge, aber auch vieles, das mir bekannt ist; Tassen, Teller, Kleidung, ein Bett.
»Das ist ein Fernseher«, sagt Luca, als ich auf einem schwarzen Gerät herumdrücke. »Die funktionieren nur mit Strom.« Luca faltet die Karte und steckt sie in seinen Beutel. »Der wird bestimmt gar nicht mehr funktionieren, auch nicht mit Strom.«
Strom gibt es in Kolonie D nicht. Nicht mehr. Früher, so erzählen die Älteren, habe es noch Strom gegeben. Die Kabel, durch die der Strom geflossen ist, die gibt es zum Teil noch heute. Aber mit der Zeit sind immer mehr Geräte, die nur mit Strom funktionieren kaputt gegangen. Und irgendwann hat man in Kolonie D keinen Strom mehr gebraucht. Umso erstaunter war ich, dass es im Lager elektrisches Licht gab.
»Wen willst du erreichen ?«, frage ich nun doch.
»Die Rebellen.«
Ich bleibe stehen, lege den Kopf schief und warte auf eine Erklärung. Luca seufzt.
»Das sind freie Menschen, die sich zusammengeschlossen haben und in kleinen Gruppen gegen die Tesare kämpfen. Wenn wir es zu ihnen schaffen, sind wir in Sicherheit. Die meiste Zeit aber fahren sie von einer Stadt zur anderen und suchen nach Menschen, die vielleicht noch irgendwo dort draußen leben. Es gibt immer wieder kleinere Gruppen, die sich alleine durchschlagen.«
Rebellen! Es gab immer Gerüchte, dass es vielleicht noch Menschen da draußen gibt, aber die meisten haben solche Munkeleien als Wunschdenken und Fantasterei abgestempelt. In fünfundsiebzig Jahren hat sich nie ein Mensch an der Grenze zu Kolonie D gezeigt. Wenn es noch freie Menschen geben würde , hätten wir sie bestimmt irgendwann mal gesehen.
»Woher kennst du diese … eben diese«, meldet sich Kayla zu Wort. Sie richtet sich auf, reckt sich genüsslich und gähnt. »Und gibt es wirklich noch Menschen da draußen ?« Kayla hüpft ganz aufgeregt herum. Durch ihr Gehopse bläst es wieder kleine dicke Staubwolken aus den
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