Tesarenland (German Edition)
konnte. Auch dieser LKW hatte Lebensmittel, ein paar Säcke Kleidung und Schuhe mitgebracht.
Ich stand mit ein paar Mädchen und Jungen in meinem Alter auf dem Platz und wir unterhielten uns über den Oberaufseher, der offensichtlich Interesse an der Frau unseres Nachbarn hegte, denn er brachte ihr in letzter Zeit gerne mal einen Sack Zucker oder Mehl extra. Einige Einwohner unserer Kolonie waren deswegen ein bisschen neidisch, weil gerade Zucker etwas war, was wir nur selten bekamen. Aber das war, bevor der Hunger uns alle zu argwöhnischen Konkurrenten machte. Zu dieser Zeit gab es noch so etwas wie ein freundschaftliches Zusammenleben in der Kolonie. Aber je knapper die Nahrungsmittel wurden, je seltener die Lieferungen, desto mehr brach der Zusammenhalt auseinander.
Als die Ladeklappe des Lasters geöffnet wurde, kam erst Luca in Sicht. Seine Hände und Füße waren gefesselt. Er hob die Arme über den Kopf und versuchte seine Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen. Der Leibsklave, der unten darauf wartete, dass Luca herauskommen würde, sagte etwas zu ihm. Luca trat ruhig an den Rand der Ladeluke und sprang geschmeidig herunter. Er hatte zerrissene Hosen an, die kaum noch zusammenhielten. Seine Haare waren verfilzt, in seinem Gesicht klebte Blut. Sein Oberkörper war nackt und auf Brust und Rücken konnte man lange rote Striemen sehen. Ich erkannte sofort, dass er ausgepeitscht worden war.
Unser damaliger Oberaufseher hatte gerne und oft Bewohner aus Kolonie D gezüchtigt, wie er es nannte. Manchmal, weil sie versucht hätten, Karam zu stehlen. Manchmal, weil sie angeblich Äpfel aus dem Lebensmittellager gestohlen hätten. Jeder wusste, das Lager war seit Längerem so gut wie leer, nur kurz nach einer neuen Lieferung enthielt es überhaupt Nahrungsmittel. Und diese, hatte der alte Aufseher viel zu oft für seine Zwecke genutzt. Es war gut, als er irgendwann halb verkohlt am Zaun gefunden wurde, weil wir dann einen neuen bekamen, der mehr Verständnis für uns aufbrachte, weswegen es auch niemanden interessierte, was mit dem alten geschehen war. Der Aufseher war tot, fertig.
Als ich Luca damals so sah, all die Verletzungen, die man ihm beigefügt hatte, war ich, obwohl ich so was schon oft gesehen hatte, schockiert. Weil ich es zum ersten Mal an einem Kind sah. Ich verstand nicht, was ein Kind getan haben konnte, um so bestraft zu werden. Dieselbe Frage erkannte ich in den Gesichtern der anderen Menschen um mich herum. Luca dagegen blickte stolz und voller Hass auf die Tesare, die ihre Speere auf ihn gerichtet hielten. So, als könnten sie ihm keine Angst machen, als würde es ihn nicht interessieren, dass sie ihn auch ohne darüber nachzudenken, töten würden.
Als ich wach werde, sitzt Kayla in eine Decke gehüllt neben Luca. Ihre Augen sind erwartungsvoll auf den Topf gerichtet, in dem Luca gerade Milch erwärmt.
»Guten Morgen«, begrüßt sie mich munter. »Luca sagt, du hast den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht durchgeschlafen .« Sie kichert und ich kann mir ein erleichtertes Lachen nicht verkneifen. Sie sieht viel besser aus. »Luca hat mir meine Medizin jetzt schon zwei Mal gegeben, weil du es verschlafen hast.«
»Habe ich wirklich so lange geschlafen ?«, will ich von Luca wissen.
»Du hast das Abendbrot und das Frühstück verpasst .«
Ich stehe von der Decke auf, strecke meine Glieder, trete etwas auf der Stelle und richte meine Kleidung. »Dir scheint es ja wieder gut zu gehen«, stelle ich gähnend fest . Misstrauisch mustere ich meine Schwester. Ich kann nicht glauben, dass die Medikamente so schnelle Besserung gebracht haben. Aber meine Schwester lächelt mich glücklich an. Sie wirkt noch blass, die Augen noch etwas eingefallen, aber sie macht einen deutlich muntereren Eindruck auf mich.
»Luca hat sich auch sehr nett um mich gekümmert. Das Fieber ist weg, hat er gesagt. Wir haben auch über dich geredet, aber ich darf dir nichts verraten .« Sie wackelt mit den Augenbrauen und ich spüre, wie sich ein Knoten in meinem Magen bildet und Hitze in mein Gesicht steigt. Was hat sie Luca über mich erzählt? Dass ich nicht kochen kann, nicht nähen und auch sonst nicht viel Nützliches?
»Habt ihr ?«, sage ich und ärgere mich, weil meine Stimme so schwächlich klingt, dass Luca zu mir aufsieht mit diesem Blick, der mich immer so nervös werden lässt.
Luca rührt etwas von dem dunkelbraunen Pulver , das ich seit gestern so sehr liebe in die Milch. Ich lecke mir voll Vorfreude
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