Tesarenland (German Edition)
schwankt, dann kippt er zur Seite. Der Tesar wendet sich der Gruppe Menschen hinter dem LKW zu und beachtet sein Opfer, das mit nacktem Oberkörper im Schnee liegt, nicht mehr.
Luca stellt sich zu uns. »Siehst du die Armbinden an ihren Oberarmen ?«
»Ja«, sage ich. »Was hat das zu bedeuten ?« Dort unten stehen Frauen, Männer und auch Kinder. Soweit ich das sehen kann, trägt jeder von ihnen eine rote, blaue oder grüne Armbinde. Nicht nach Geschlecht, sondern scheinbar wahllos.
»Sie bereiten eine Hatz vor .« Kayla rückt näher an das Fenster. Ich will sie wegdrängen, sie soll nicht noch mehr von dem sehen, was da unten vorgeht, aber sie schüttelt meine Hände ab. Sie drückt sich an mir vorbei, stellt sich auf ihre Zehenspitzen, damit sie besser sehen kann.
»Was ist eine Hatz ?«, fragt sie und drückt ihre Nase gegen das Glas.
»Eine Menschenjagd. Sie werden die Menschen dort unten in irgendeiner verlassenen Stadt aussetzen und sie dann jagen, bis keiner mehr von ihnen lebt. Es ist ein Spiel für sie .«
Mein Magen krampft sich bei der Vorstellung zusammen. Ich wende mich von dem Fenster ab. Ich mag die zum Tode verurteilten Menschen nicht länger sehen müssen. »Lösen sich die Bänder nicht mit auf, wenn sie die Menschen erschießen ?« Ich muss nicht fragen, warum die Menschen dort unten, die Bänder tragen. Ich habe schon Tesare gesehen, die sich mit solchen Bändern schmücken. Sie tragen sie überall am Körper. Jetzt weiß ich warum. Es sind Jagdtrophäen. Beweise für ihren Sieg über einen Menschen.
»Sie benutzen ihre Speere nicht für die Jagden. Sie benutzen, was sie in den Städten finden, manchmal auch Waffen, die sie am Leib tragen, Messer und Wurfscheiben zum Beispiel .« Luca schaut mich kurz von der Seite an. Dann sehe ich, wie sein Körper erstarrt und sein Atem stockt. Im gleichen Augenblick schnellen seine Hände nach vorne und legen sich über Kaylas Mund. Kaylas Augen sind weit aufgerissen. Sie krallt ihre Finger in Lucas Haut. Sie zappelt und zerrt, doch er lässt sie nicht los.
Ich bin völlig überrumpelt. Was tut er da? Er schleift Kayla vom Fenster weg, während sie stöhnt und sich gegen seinen Griff wehrt. Ihre Hände zucken zum Fenster hin, ihre Augen weichen nicht von der Scheibe. Ich folge ihrem Blick und erstarre.
»Nicht schreien«, fleht Luca. »Du darfst jetzt nicht schreien.«
Ich bin nicht sicher, zu wem Luca das gesagt hat, aber ganz von allein presse ich meine Hände auf meine Lippen, um den Schrei, der sich meine Kehle hinaufarbeitet zu verdrängen. Meine Hände zittern. Mir wird ganz kalt. Kayla hat sich befreien können. Sie rennt ans Fenster. Ihre Hände drücken gegen das kalte Glas. »Mutter !«, ruft sie.
Luca drängt sich an mir vorbei. Er verschließt wieder ihren Mund. Ich bin unfähig etwas zu tun. Starre einfach weiter auf die Frau mit dem rostfarbenem Haar und der grünen Armbinde, die gerade in den Laster gestoßen wird. Ganz genauso wie vor so langer Zeit schon einmal. Sie lebt noch, denke ich. Und im gleichen Atemzug weiß ich, sie ist so gut wie tot. Die Klappe des LKW wird geschlossen und ich wünschte, ich hätte nie erfahren, was ich jetzt weiß. Meine Mutter wird den grauenvollsten Tod erleiden müssen, den ich mir vorstellen kann.
»Wir müssen sie dort rausholen«, sage ich wimmernd. Kayla schaut mich hoffnungsvoll an. Ihr Blick wandert von mir, zu Luca. Ich muss ihn nicht einmal ansehen, um zu wissen, was Luca gleich sagen wird. Mir reichen die Tränen, die über Kaylas Wangen rinnen als Antwort aus. Es gibt keine Chance für Mutter. Selbst wenn wir wüssten, wohin man sie bringt, würde sie längst tot sein, wenn wir sie erreichen. Ich starre aus dem Fenster, beobachte den Laster, wie er sich langsam entfernt. Der Mann liegt noch immer im Schnee, keiner beachtet ihn. Die ganze Zeit war Mutter noch am Leben, war sie in unserer Nähe und wir haben es nicht gewusst. Hätten wir sie retten können?
Mein Brust f ühlt sich zugeschnürt an, als läge eine der Ketten, die um Mutters Füße gewunden waren, um meinen Oberkörper geschlungen. Kayla weint neben mir. Ich kann nicht weinen. Ich fühle nur Leere. Dann reißt die Kette um meiner Brust, ich tue einen tiefen Atemzug und stoße die Luft mit einem gellenden Schrei wieder aus meinem Körper. Ich fühle mich hilflos, nutzlos, erstarrt. Der Schmerz zerreißt mich. Ich weiß nicht wohin mit meiner Verzweiflung. Luca schließt mich in seine Arme, auch Kayla umschlingt mich ganz
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