Tesarenland (German Edition)
muskulös war. Lina traute sich irgendwann zu ihm. Sie stellte sich neben ihn und sprach ihn einfach an. Ich war damals neidisch. Ich wäre auch gern so mutig gewesen, ihn anzusprechen. Aber dann sah er zu ihr auf und seine Lippen bewegten sich. Irgendetwas hatte er gesagt, etwas, was Lina verletzt hatte. Wir alle beobachteten es. Sie drehte sich einfach weg von Luca und stolzierte über den Platz auf uns zu. Aber bevor sie ihre Nase in die Luft gereckt hatte, sah ich kurz den schmerzerfüllten Blick in ihrem Gesicht. Lina war die hübscheste von uns. Als wir sahen, wie Luca sie abwies, wagte sich keine mehr von uns in seine Nähe. Wir alle mieden ihn wann immer es ging, weil jede von uns seine Worte fürchtete und die Art, wie er uns ansah.
Ich muss schmunzeln, als ich an die Szene zurückdenke. Ob die anderen Mädchen wissen, dass Luca, Kayla und ich jetzt zusammen unterwegs sind? »Luca«, murmel ich. »Auf dem Sommerfest damals, als Lina zu dir gegangen ist, was hast du ihr gesagt?«
Luca hält nicht inne. Er streut weiter Tee in das kochende Wasser, nimmt den Topf vom Feuer und stellt ihn auf den Tisch ab. »Wenn ich überhaupt mit einem Mädchen tanzen würde, dann mit dir .« Mein Herz rast in meiner Brust, so unerwartet kommen diese Worte.
Luca sieht zu mir auf und lächelt unsicher.
»Mit mir? Warum«, frage ich erstaunt.
»Weil du nicht so kindisch warst wie die anderen Mädchen. Du warst ruhig, nachdenklich. Irgendwie hast du nicht in diesen kichernden Haufen gepasst.«
Es erstaunt mich, dass Luca das aufgefallen ist. Nicht, weil er mich anscheinend beobachtet hat, sondern weil er recht hat. Ich hatte nie das Gefühl , zu den Mädchen in Kolonie D dazuzugehören. Eigentlich ist mir nie klar geworden, wohin ich gerne gehört hätte. Ich habe keine Lust auf Kochen, Nähen, Tanzen und auch nicht auf die Arbeit auf dem Feld gehabt.
»Weißt du, dass wegen dieser Geschichte keins der Mädchen sich mehr gewagt hat, dich anzusprechen? Wir haben alle gedacht, du willst einfach deine Ruhe. Und Lina hat nie erzählt, was du ihr gesagt hast. Wir dachten immer, du hättest ihr wehgetan.«
»Eigentlich wollte ich das auch. Wie ich dir schon gesagt habe, war ich nicht gerade besonders erpicht auf euch Kolonisten .« Luca grinst breit und reicht mir eine Tasse heißen Tee. »Aber bei dir hätte ich vielleicht eine Ausnahme gemacht.«
»Also, wie soll es jetzt weitergehen ?«, will er nach einer Weile wissen. Ich habe Kayla gerade von unserer Wasserschlacht in Mutters Garten erzählt. Ich glaube, sie hat es gar nicht mitbekommen, aber das stört mich nicht.
»Wie mein st du das?«
Eine Antwort bekomme ich nicht mehr. Der kleine Körper in meinen Armen beginnt plötzlich wieder zu krampfen. Kayla wirft sich herum, ihr Oberkörper bäumt sich auf, ihre Arme und Beine zucken und schlagen wild um sich. Erschrocken lasse ich sie los, sie fällt zurück auf die Matratze. Obwohl ich die Krämpfe mittlerweile kenne, fühle ich mich nach wie vor wie gelähmt. Mein Innerstes zerreißt aus Mitleid und Angst. Ich wünsche mir, dass es aufhört, dass sie es auch dieses Mal überlebt, dass sie endlich stirbt. Wie kann ich meiner Schwester nur den Tod wünschen?
Weil ich sie liebe, sage ich mir. Weil ich nicht will, dass sie länger leidet. Dieser kleine Körper hat genug gelitten. Ich kann es nicht länger mit ansehen. Ich will es nicht länger mit ansehen. Überall auf der Matratze ist ihr Blut. An Lucas Händen klebt ihr Blut. Ich sehe auf meine Finger, und ich sehe Blut.
Luca beugt sich über Kaylas Brust und hält sie fest. Sie wird ruhiger, bis sie ganz stillliegt. Ihre Augen sind auf mich gerichtet. Sie soll die Angst in meinem Gesicht nicht sehen, deswegen lächle ich sie an. Sie zeigt keine Reaktion. Ihre Augen starren mich unverwandt an. Still. Starr. Erloschen.
Ich schrecke zurück, schiebe mich von Kayla weg und sehe Luca an, der noch immer über sie gebeugt ist. Ich muss nichts sagen, er liest es in meinen Augen. Luca erhebt sich, rückt von Kayla ab. Ich sehe auf ihren Brustkorb runter, dorthin, wo eben noch Luca gewesen ist. Er ist ganz still. Meine schlimmsten Ängste sind wahr geworden. Kayla atmet nicht mehr. Sie holt keine Luft mehr. Nicht mal ein bisschen.
»Sie ist tot«, flüstere ich und meine Stimme hört sich in der Stille fremd und laut an. Ich sehe Kayla an, und bin gelähmt. Und ich kann nicht begreifen. Ich sitze direkt neben ihr, aber ich kann die Bedeutung dessen nicht erfassen. Es fühlt
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