Tesarenland (German Edition)
sich nicht real an. Wie könnte sie auch tot sein? Sie ist erst sieben. Ich möchte sie schütteln, weil sie bestimmt nur schläft. Aber da sind ihre Augen. Ich wende den Blick ab, nur um gleich wieder hinzusehen.
Luca schließt ihre Lider. Jetzt sieht sie mich nicht mehr aus diesen kalten Augen an. Jetzt sieht sie wirklich aus, als würde sie nur schlafen. Also, wie kann ich glauben, dass sie tot ist? Natürlich weiß ich, dass es wahr ist. Es dringt nur nicht bis dorthin vor, wo es mir bewusst wird. Sollte ich nicht um sie weinen? Aber ich kann nicht weinen. Ich kann sie nur ansehen. Ich hebe meine Hand, streiche ihr die klebrigen Strähnen aus der Stirn. »Meine kleine Kayla.«
Ich will ihr sagen, dass sie es jetzt geschafft hat, dass sie die Schmerzen überstanden hat. Ich will ihr sagen, dass sie jetzt Vater wiedersehen wird. Vielleicht auch Mutter. Die Alten haben gesagt, unsere Seele fährt nach dem Tod in den Himmel. Wenn ich mir vorstelle, dass sie wirklich alle dort oben sind, dann klingt das doch schön. Aber wenn ich es ihr sage, wenn ich es laut ausspreche, dann wird es zur Realität. Dazu bin ich noch nicht bereit.
Ich sehe Luca an, der neben dem Bett kniet. Blut tropft aus seiner Nase. Es schockiert mich nicht, es überrascht mich nicht. Es macht mir auch keine Angst. Der Tod wartet auch auf ihn, so wie er auf mich wartet. Der Tod macht mir keine Angst mehr. Warum auch, bald werde ich Kayla wiedersehen. Wir werden wieder eine Familie sein. Wir werden gemeinsam dorthin gehen, wo auch Vater hingegangen ist. Wo auch Mutter vielleicht schon wartet. Der Gedanke tröstet mich und es erscheint mir plötzlich gar nicht mehr so schlimm, dass Kayla gegangen ist. Vielleicht ist der Schock auch so schnell von mir abgefallen, weil ich schon seit Tagen wusste, dass es passieren würde. Ein Teil meines Herzens war vorbereite. Und dieser Teil ist erleichtert, dass Kayla endlich nicht mehr leiden muss. Dass es vorbei ist für sie, überstanden.
Ich hebe eine Hand, lege sie an Lucas Wange. Er schmiegt sich in meine Handfläche. Mit dem Daumen wische ich das Blut von seinen Lippen. »Du auch«, sage ich schwach.
Luca scheint genauso wenig überrascht wie ich. Er steht auf, breitet eine Decke über Kayla aus, legt seine Hände um meine Taille und hebt mich vom Bett herunter. Er stellt mich auf den Boden, zieht mich in seine Arme und hält mich ganz fest. Ich lehne mich gegen ihn.
»Ich habe keine Angst«, sagt er. »Wenn du nur bei mir bist .«
»Ich will nicht leiden müssen«, sage ich. »Ich bin nicht so tapfer wie Kayla .«
Meine kleine Schwester war immer die stärkere von uns. Und jetzt ist sie nicht mehr da. Ich werde sie nie wieder lächeln sehen, nie wieder zuhören, wie sie Luca ihre Fragen stellt. Aber dieses ›Nie wieder‹ ist ohnehin nicht mehr lang.
Wir setzen uns auf unser Deckenlager. Lange Zeit schweigen wir. Ich denke darüber nach, ob ich in Mutters Augen nun versagt habe, oder ob sie stolz auf mich wäre, dass wir es so weit gebracht haben. Ich für meinen Teil bin stolz auf uns. Ich werde ohne ein schlechtes Gewissen sterben, denn ich habe getan, was getan werden musste. Dass Luca und ich, dass wir beide , jetzt auch krank sind, das zeigt doch nur, wie richtig Roland mit seiner Vermutung gelegen hat. Es war gut, mich gegen die Rebellen zu entscheiden. Bestimmt hätte Mutter das auch so gesehen. Ich wische mir eine Träne von der Wange und beschließe, ab jetzt nicht mehr zu weinen. Nur noch wenige Tage, dann werde ich Kayla wiedersehen.
»Wusstest du, dass sie zu mir gekommen ist, auf diesem Sommerfest. Sie hat mir eine der Blumen aus ihrem Haar geschenkt.«
»Hat sie ?«, frage ich und wundere mich nicht. Kayla war immer schon ein offener, freundlicher Mensch gewesen.
»Ja. Unter der Bedingung, dass sie meine Fre undin sein durfte.« Luca grinst mich an. »Ich hätte dich gestern gar nicht küssen dürfen, weil ich nämlich schon vergeben war.«
Ich boxe ihm auf den Oberschenkel. Er hält meine Hand fest, bevor ich sie zurückziehen kann und drückt seine Lippen auf meine. Seine andere Hand wandert meinen Rücken hinauf, bleibt zwischen den Schulterblättern liegen. In meinen Ohren rauscht es, und ich versuche verzweifelt nicht zu heftig zu atmen, weil ich nicht möchte, dass er merkt, wie nervös mich seine Berührung macht. Mit seinem Oberkörper drückt er mich in die Decken. Seine Zunge streichelt über meine Lippen. Mein Herz springt gegen meine Brust. Bestimmt spürt er es
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