Tessy und die Hörigkeit der Malerin - 1
im Wohnzimmer auf der Couch – das konnte Tessy durch die halbgeöffnete Wohnungstür erspähen. Das Gesicht in den Händen vergraben. Tessy schob die Tür ganz auf und machte den halbherzigen Versuch, sich zu sammeln.
Plötzlich stand ein groß gewachsener Mann in Jeans und Lederjacke vor ihr und verstellte ihr den Weg. Tessy brauchte nur eine Sekunde, um ihn zu erkennen: Kriminalhauptkommissar Dirk Hanter. Bartschatten, blaue, schmale geschnittene Augen unter dunklen Brauen und ein nachdenklicher Mund, der im Moment sehr müde wirkte. Oder erschöpft. Auch Dirk Hanter war offensichtlich erst kürzlich aus dem Bett geholt worden. „Sie können hier im Moment nicht einfach …“ Er brach ab und musterte sie verblüfft. „Heh, Tessy.“
„Doch, ich kann. Hallo Dirk“, gab Tessy zurück.
Hanter war einer von den Kriminalbeamten, mit denen sie noch bis vor kurzem oft zu tun gehabt hatte. Sie mochte ihn, und zwar nicht nur weil er ihr gegenüber trotz seiner berufsbedingten Vorbehalte gegen die schreibende Zunft häufiger mal eine Bemerkung mehr über den einen oder anderen Fall gemacht hatte. Sie fand ihn anziehend. Männer wie er sorgten dafür, dass Tessys Interesse auch am Sex mit dem anderen Geschlecht nicht nachließ. Trotz Gertrud oder Sabine oder Maika oder wie sie gerade hießen. Tessy legte sich nicht gerne fest. So oder so nicht. Warum auch? Sie liebte die Abwechslung und das Spiel mit dem Feuer, sie war neugierig und stets auf der Suche, und so lange sie keine Lust verspürte, eine feste Beziehung einzugehen, mit wem auch immer, oder eine Familie zu gründen, sah sie keinerlei Anlass, ihr Liebesleben in so genannte geordnete Bahnen zu lenken. Wie langweilig. Egal, was andere dazu sagten. Glücklicherweise war Gertrud ganz und gar ihrer Meinung, und die beiden verbrachten aufregende Stunden miteinander, um dann jeweils ihrer Wege zu gehen. Ein wunderbares Arrangement.
Dirk lehnte sich an den Türrahmen. „Du bist früh unterwegs. Hast du Polizeifunk gehört?“
„Nein. Ich bin privat hier. Kerstin hat mich angerufen. Sie ist eine enge Freundin.“
„Ach du Scheiße.“ Hanter sah sie einen Moment schweigend an. „Okay, verstehe. Du kanntest ihren Mann also auch?“
„Ja. Lässt du mich jetzt erst mal zu ihr? Ich glaube, sie braucht mich ziemlich dringend.“
Hanter nickte und gab die Tür frei. „Sag mal, stimmt das eigentlich – ich habe gehört, dass du gar nicht mehr beim Tagesblatt bist?“
Sie hob das Kinn. „Ja, und ich bin heilfroh darüber.“
„Und was machst du jetzt so?“
„Urlaub im sonnigen Süden von Berlin und mich um meine Freundin kümmern.“
„Aha. Na schön – wir reden später noch. Ach, noch was …“ Er nickte in Kerstins Richtung. „Gerade war eine Ärztin hier und hat ihr was gegeben. Nur dass du Bescheid weißt.“ Dann wandte er sich um und schlenderte in die Küche. Tessy blickte ihm kurz hinterher, bevor sie den Raum betrat.
Kerstin sah ihr entgegen. Ihr Gesicht war verquollen und fleckig. Ein frischer Luftzug wehte durch die offene Balkontür herein. Tessy bemerkte die Silhouette eines Mannes – ein Kriminaltechniker nahm Fingerabdrücke, fotografierte und überprüfte das Geländer, über das Patrick irgendwann in der Nacht in die Tiefe gestürzt war, um einen Moment später von den Eisenspitzen des Zauns aufgespießt zu werden. Zwei Passanten hatten ihn entdeckt. Sie setzte sich neben Kerstin und legte den Arm um sie. Die Freundin zitterte, als wäre sie völlig ausgekühlt. Sie roch nach Schweiß und Angst. Tessy strich mit zarten, vorsichtigen Händen über ihren Rücken und spürte, wie die Verzweiflung auf sie übergreifen wollte.
2
Als Tessy fast drei Stunden nach ihrem frühen Aufbruch nach Marienfelde zurückkehrte, hatte sie frische Brötchen dabei. Es kam ihr ziemlich unpassend vor, an ein appetitliches Frühstück zu denken, aber sie hatte Hunger, und mit leerem Bauch war sie zu nichts zu gebrauchen. Außerdem verfügte sie grundsätzlich über einen robusten Magen und einen gesunden Appetit, auch und gerade bei nervlicher Anspannung, was ihre gertenschlanke und diätversessene Mutter stets entsetzte – aber das spielte nun wirklich keine Rolle.
Tessy betrat das Grundstück durch die kleine Gartentür. Direkt hinterm Zaun begannen Wiese und Felder, der südliche Berliner Mauerweg und das Land Brandenburg: ein Paradies für Hundebesitzer, Jogger, Radfahrer, wobei sich die Interessen der einzelnen Gruppen manchmal ein
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