Tessy und die Hörigkeit der Malerin - 1
wenig überschnitten …
Onkel Edgar hatte wie einige seiner Nachbarn vor Jahrzehnten begonnen, seine Laube Stück für Stück zu einem festen Wohnsitz auszubauen. Ganz fertig war er nie geworden, zumal seine handwerkliche Begabung gutes Hobbymittelmaß kaum überschritt, und das Haus wirkte weder besonders gepflegt noch schön, erst recht nicht nach dem Tod seiner Frau Martha vor gut zehn Jahren. Benutztes Geschirr musste schon mal zwei, drei Tage im Spülbecken ausharren, und mit dem Putzen nahm er es auch nicht so genau … Kurz und gut: Sein Domizil war nichts für empfindliche Nasen, und bei einer hausfraulichen Begutachtung hätte es außer in der Sparte kauziger Charme kaum Chancen. Es betörte eher durch seine raue Individualität – wie er selbst auch.
Edgar war Tierpfleger im Berliner Zoo gewesen, spezialisiert auf Katzen in jeder Größe und Stimmungslage. Manchmal kam er Tessy selbst wie ein alter zerzauster und ziemlich schlauer Kater vor, aber das sagte sie ihm nicht. Seit er die fünfundsiebzig überschritten hatte, reagierte er hin und wieder etwas empfindlich auf das Wort „alt“.
Vor einigen Wochen, als ihr finanzieller Engpass nach dem Aus beim Tageblatt immer offensichtlicher geworden war, hatte Edgar ihr angeboten, ihre teure Wohnung in Kreuzberg aufzugeben und erstmal in sein Haus zu ziehen. Sie könnte für ein bisschen Ordnung und Sauberkeit sorgen und sich um seine Katzen Pepper und Chili kümmern, während er endlich sein Versprechen einlöste und für einige Monate einen alten Freund besuchte, der sich in Bayern beim Bund Naturschutz in einem Projekt für Wildkatzen engagierte. Wenn Edgar zurückkehrte, würde man weitersehen. Nach seinen letzten Anrufen zu schließen, war er inzwischen so eifrig bei der Sache, dass man ihn gar nicht mehr weglassen wollte. Tessy freute sich für ihn – und war ihm zutiefst dankbar. Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben.
Sie schloss die Haustür auf, und die Kater schossen um die Ecke. Pepper war ein dunkelgrauer kräftiger Bursche von mindestens acht, wahrscheinlich sogar zehn Jahren, der sich bei zahllosen Revierkämpfen schon so manche Schramme zugezogen hatte. Wie die jeweiligen Gegner anschließend ausgesehen hatten, darüber schwieg er sich mit unergründlichem Blick aus. Chili war das genaue Gegenteil: ein drahtiger, roter Irrwisch mit mauliger Stimme, kaum drei Jahre alt, den man sich gut als anfeuernden Aufrührer vorstellen konnte. Beide Tiere waren Edgar zugelaufen.
Tessy füllte die Fressnäpfe; Sekunden später ließen es sich die beiden mit lautem Schmatzen gut gehen, und sie kümmerte sich um ihr Frühstück.
Nach zwei Körnerbrötchen, einem Croissant und einer Kanne Kaffee fühlte sie sich genügend gestärkt, um mit Dirk Hanter zu telefonieren und nach den ersten Erkenntnissen zu fragen, worum Kerstin sie ausdrücklich gebeten hatte. Tessy hoffte, dass man mittlerweile genauer nachvollziehen konnte, was eigentlich passiert war.
Sie starrte einen Moment ins Leere, nestelte schließlich ihr Handy aus der Brusttasche und griff aus dem wackligen Regal neben der Anrichte nach Stift und Block. Sie war auch im Job immer ein Fan der handschriftlichen Notizen gewesen und hatte Diktiergeräte selten benutzt. Was sie einmal notiert hatte, war zumindest flüchtig durchdacht und geordnet. Dass sie aufgrund ihrer langjährigen Berufserfahrung einen guten Draht zu Behörden hatte und wusste, wo man ansetzen musste, um Informationen zu erhalten, machte die Sache nicht angenehmer, aber leichter. Rasch schrieb sie unter dem aktuellen Datum einige Stichpunkte auf, dann wählte sie Dirks Mobilnummer. Hanter meldete sich sofort.
„Wisst ihr schon genauer, was passiert sein könnte?“ fiel Tessy gleich mit der Tür ins Haus. Sie wusste, dass auf seinem Display ihr Name aufgeblinkt war.
„Hm“, gab der Kripobeamte mehr als einsilbig zurück.
„Frühstückst du gerade?“
„Nö“, erwiderte Dirk.
„Und?“
Er seufzte. „Hör zu, Tessy, du weißt, dass ich immer so viele Infos wie möglich an dich herausgebe, aber in diesem Fall …“
„Was ist mit diesem Fall?“
„Ach komm, dir müsste doch klar sein, dass ich dir im Grunde genommen gar nichts sagen darf. Du bist ja nicht mal als Journalistin unterwegs …“
Tessy biss sich auf die Unterlippe. „Nun mach mal halblang“, frotzelte sie. „Du hast gesehen, in welcher Verfassung Kerstin ist, und du weißt, dass wir eng befreundet sind und sie mich gebeten hat, alles Mögliche zu
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