Test: Phantastische Erzahlungen
fort, die sich zu einer Lawine vereinigten. Man konnte ihren Weg nicht lange verfolgen, denn eine milchig-weiße Staubwolke hüllte alles ein. Das Schauspiel wirkte wie eine Halluzination – die zusammenprallenden Blöcke gaben kein Geräusch von sich, und durch die wulstigen Sohlen der Stiefel war kein Zittern, kein Beben zu spüren. Als sie an der nächsten Schneise scharf um die Ecke bogen, sah Pirx die Spur der Lawine und dann die Lawine selbst – eine Wolke sanf herabgleitender Wellen. Voller Unruhe suchte er die Rakete, aber die stand in Sicherheit. Sie war ein bis zwei Kilometer entfernt; er sah ihre leuchtende Hülle und die drei gespreizten Stützen. Wie ein seltsames Mondinsekt ruhte sie auf dem alten Lawinengelände, das Pirx so abschüssig erschienen war und das nun so f ach wirkte wie ein Tisch.
Als sie sich der Zone des Schattens näherten, beschleunigte Pnin seinen Schritt. Das Grauen, das die Umgebung ausstrahlte, hatte Pirx’ Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch genommen, daß er einfach keine Zeit hatte, Langner zu beobachten. Nun erst bemerkte er, daß der Astrophysiker sicher einherschritt und niemals stolperte.
Sie mußten einen vier Meter breiten Spalt überspringen. Pirx legte zuviel Kraf in den Sprung, er segelte in die Höhe und landete, krampf af mit den Beinen strampelnd, gute acht Meter weiter. Ein solcher Mondsprung war ein Erleb nis – er hatte nichts gemein mit den Narreteien der Touristen.
Sie betraten den Schatten. In der Nähe der Felswände, die das Sonnenlicht ref ektierten, konnten sie die Umgebung noch ein wenig erkennen, aber dann wurde die Dämmerung dichter, und es wurde so f nster, daß sie einander aus den Augen verloren. In diesem Schatten war die Nacht. Pirx spürte den Frost durch die antithermischen Schichten des Skaphanders. Er drang nicht unmittelbar zum Körper, er biß nicht in die Haut, er war gewissermaßen nur die Manifestation einer schweigenden, eisigen Gegenwart. Einzelne Teile des Skaphanders begannen spürbar zu zittern, sie hatten sich um etwa zweihundertfünfzig Grad abgekühlt. Pirx’ Augen gewöhnten sich allmählich an die Finsternis. Er bemerkte, daß die Kugeln an den Spitzen der Aluminiummaste ein starkes rotes Licht ausstrahlten; die Perlenreihe dieser Rubinkette führte in die Höhe und verschwand in der Sonne. Oben ragte ein geborstener Felsbuckel auf, drei tiefe Schluchten führten zur Ebene, getrennt durch schmale senkrechte Wände, die scharfen Gesimsen ähnelten. Das Ganze glich einem riesigen Regal mit Fächern. Pirx hatte den Eindruck, daß die Reihe der Maste in einem dieser Fächer endete, aber er wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Ganz oben sah man den zerklüf eten Hauptwall der Mendelejew-Station und einen breiten Sonnenstrahl, der wie eine gleißende Säule senkrecht in die Tiefe führte. Eine lautlose Explosion schien glühendes Weiß auf die Felsentürme verspritzt zu haben.
»Dort ist die Station«, hörte er in der Haube Pnins nahe Stimme. Der Wissenschaf ler war an der Grenze zwischen Nacht und Tag, zwischen Frost und Hitze stehengeblieben und deutete nach oben. Pirx blickte auf, aber außer den Felsen, die auch in der Sonne schwarz wirkten, konnte er nichts erkennen.
»Sehen Sie den Adler? So haben wir diesen Buckel getauf . Das ist der Kopf, dort sehen Sie den Schnabel und dort die Flügel!«
Pirx unterschied im ersten Moment nur eine Anhäufung von Licht und Schatten, weiter nichts. Über dem östlichen Kamm ragte eine gekrümmte Zinne auf; sie schien ganz nahe zu sein, weil ihre Umrisse nicht vom Nebel verwaschen waren. Dann aber erblickte er den Adler. Die Wand, der sie zustrebten, war der Flügel, darüber – vor dem Hintergrund der Sterne – erhob sich der Kopf, und die Zinne war der Schnabel.
Pirx sah auf die Uhr. Sie waren bereits vierzig Minuten unterwegs. Vor der nächsten Schattenzone blieb Dr. Pnin stehen, um seinen Klimatisator zu verstellen. Pirx nutzte die Gelegenheit und fragte seinen Gefährten, wohin der Weg führe.
»Dorthin!« Pnin wies mit der Hand nach unten.
Pirx sah nur die Steinwüste, in ihrer Mitte erkannte er einen aufgeschütteten Kegel, aus dem große Felsbrocken herausragten.
»Dort ist die Platte abgerissen«, erläuterte Pnin. Dann deutete er auf eine Vertiefung im Kamm. »Das ist das Sonnentor. Unsere Seismographen in der Ziolkowski-Station haben die Erschütterung registriert; nach unseren Schätzungen ist etwa eine halbe Million Tonnen
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