auf ihre Uhr, was sie nur noch mehr in Panik verfallen ließ. »Bitte, Claire, können Sie mir helfen? Sie hat gesagt, ich wäre ein Scheißkretin, und sie würde mir ein so vernichtendes Zeugnis schreiben, dass die Zeitarbeitsfirma mich nie wieder irgendwohin schicken würde...«
Alice wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, und ich fasste sie bei der Schulter, um ihr Halt zu geben. Warum musste Vivian nur so grausam sein? Konnte sie der armen Alice nicht einfach sagen, wo sie nachschauen sollte, so wie jeder normale Mensch es getan hätte?
»Natürlich helfe ich Ihnen«, sagte ich. »Bitte regen Sie sich ihretwegen nicht auf. So springt sie mit allen um. Sie bekommt ihre Ordner rechtzeitig, keine Sorge.« Wie oft hatte Phil mich mit ähnlichen Worten wieder aufgebaut. Meistens gelang es ihm, mich zu beruhigen, aber ich wusste aus eigener Erfahrung, wie schwer es war, »die Sache nicht persönlich zu nehmen«, wenn jemand einen so herunterputzte.
»Bitte sagen Sie niemandem etwas davon«, flüsterte Alice, als wir in Vivians Büro standen. »Vivian ist wirklich sehr eigen, was ihre Ordner angeht. Sie bringt mich um, wenn sie erfährt, dass ich Sie um Hilfe gebeten habe.«
»Ich sage kein Sterbenswort. Also, was braucht sie?«
»Den Ordner mit den Notizen des Marketingteams zur letzten Vertriebskonferenz. Und den über das ›Prime Publishing‹-Programm.«
Ich wühlte mich durch die Schnellhefter auf Vivians Schreibtisch und fand einen mit dem Etikett »Vertrieb Herbst«. »Okay, hier ist der vom Marketingteam«, sagte ich und gab ihn Alice, die mich so dankbar anblickte, als hätte ich sie soeben aus einem brennenden Gebäude gerettet. Der
andere Ordner war nicht auf dem Schreibtisch, also ging ich zu der Wand mit den Aktenschränken und probierte es mit der Schublade N-P. Abgeschlossen.
»Warten Sie, ich hole den Schlüssel!« Alice raste los und war eine Nanosekunde später mit dem Schlüssel zur Stelle.
Ich schloss auf und zerrte die Schublade heraus. Sie war voll bis zum Platzen. »Personal« … »Präsentationen« … »Printmedien, Inland und Ausland« … da hatten wir es ja, »Prime Publishing«. Dabei handelte es sich um eine Initiative, die Vermarktung und Verkauf von Büchern unmittelbarer auf den Konsumenten zuschneiden und den Wiedererkennungseffekt so weit steigern wollte, dass ein Leser tatsächlich zuerst auf dem Buchrücken das Markenzeichen des Verlags suchte, für dessen Produkte er sich im Buchladen interessierte. Ein interessantes, wenn nicht sogar grandioses Konzept, für das Vivian bei Mather-Hollinger kräftig die Trommel gerührt hatte.
Ich ruckelte so lange, bis der Schnellhefter draußen - und alles rund um ihn herum ebenfalls nicht mehr am Platz war. Alice schnappte ihn sich wie ein Sprinter den Stab beim Staffellauf, warf mir über die Schulter hinweg noch »Sie sind ein Engel , Claire, bitte schließen Sie wieder ab!« zu und war auch schon zur Tür hinaus.
Als ich alles in die Schublade zurückstopfte, fiel mein Blick auf den Schnellhefter hinter dem, den ich herausgezogen hatte. Auf dem Etikett stand »Prizbecki«. Vivian hatte eine Akte über ihren verheirateten Freund angelegt?
Nicht schnüffeln, Claire , wies ich mich zurecht. Leg das Ding zurück. Doch meine Neugier behielt die Oberhand. Rasch nahm ich den dünnen Pappendeckel heraus und spähte
hinein. Er enthielt nur ein einziges Dokument - eine E-Mail, gerichtet an Vivians Büroadresse.
An: Vivian Grant (
[email protected] )
Von: Stanley Prizbecki ( Stanley Prizbecki@nymayor. gov)
Hallo, Zuckerschnecke. Gehst mir seit Donnerstag nicht mehr aus dem Kopf. Hab A. gesagt, ich müsste dieses Wochenende auf eine Konferenz zum Thema Öffentlicher Transport in Baltimore, stehe also ganz zu deiner Verfügung. Wir treffen uns Downtown am Freitagabend um elf. Ich staube irgendwo noch ein Paar Handschellen ab.
S.
Iiiii-gittigitt. Geschah mir ganz recht. Was musste ich auch meine Nase in fremde Angelegenheiten stecken.
Als ich den Schnellhefter schon wieder zuschlagen wollte, sah ich es - das kleine Polaroidfoto, das mit einer Büroklammer unten daran steckte. Mir fiel die Kinnlade bis zum großen Zeh runter. Das Bild zeigte Stanley in einem rosa Spitzenbody, mit hochhackigen Hausschuhen und knallrot bemalten Lippen. Lippenstift und Stoppelgesicht, das passte wie die Faust aufs Auge, genauso wie Stanleys üppige Brustbehaarung, die durch seine äußerst feminine Unterbekleidung