Teufelsberg: Roman (German Edition)
Sylvias Kindergottesdiensten denken, über den er sich lustig gemacht hatte, in der Wüste stand eine Mauer, die Tiere wollten zum Wasser und fanden den Durchgang nicht, bis aus dem Off eine Stimme sagte: »Es gibt eine Tür, und die Tür heißt Jesus.« Martin keuchte: »Die Tür heißt Jesus, die Tür heißt Jesus«, und dachte an Zeichentricktiere, die im kreisenden Licht der Sirenen lebten, aber er fand keine Tür, und schließlich krallte er die Finger in den Zaun und kletterte hinauf. Oben griff er in den Stacheldraht, zog sich hoch, wälzte sich rüber, hörte das Ratschen seines Mantels und stürzte in den Park der Cardea.
Über sich sah er die Muster der Äste, der Wind trug das Rauschen der Autos von der Avus herüber. Es dauerte einen Moment, bis Martin sich sammelte. Er setzte sich auf und bewegte die Arme, dann die Beine. Hinter den Baumwipfeln sah er den leuchtenden Nordturm und den zerstörten Südturm. Wie bei Schrödingers Katze, dachte er. Sie ist tot und gleichzeitig nicht tot. Meine Frau ist tot und gleichzeitig nicht tot, solange ich nicht weiß, in welchem Turm sie ist.
Er stand auf und humpelte durch den Schneematsch. Sein Kopf schmerzte, ihm war schwindelig. Er erreichte die Straße. Die Bäume verdeckten die Sicht, nach ein paar Schritten erkannte er wieder die zerborstene Turmkuppel. Auf einigen der emporstehenden Glasolexsplitter steckten irgendwelche Fetzen. Das Krangerüst war ins Gebäude gekracht und hatte nicht nur die Kuppel des Südturms, sondern auch den Rohbau der angrenzenden Privatklinik zerstört.
Vor dem Gebäude standen Rettungswagen, überall liefen Feuerwehrleute und Sanitäter herum, die Verletzte bargen, auch Spurensicherer in weißen Papieranzügen und gelben Gummihandschuhen waren da. Weiter unten am Berg fotografierten sie einen silbergrauen Pritschenwagen, den Martin jetzt erst bemerkte. Der Wagen war von der Straße abgekommen und seitwärts ins Gebüsch gerast. Auf der flachen Ladefläche lagen Gartenwerkzeuge und einige Säcke mit Torf, der Schneematsch auf der freien Fläche war zerwühlt und dunkel. Martin verstand nicht, was der Unfall des Pritschenwagens mit dem Kran zu tun hatte, der Wagen war etwa zweihundert Meter vom Kran entfernt.
»Was ist passiert?«, fragte er einen Feuerwehrmann.
»Am Kran hat es einen Erdrutsch gegeben. Deswegen ist er umgekippt.«
»Ob es Tote gibt, will ich wissen!«, rief Martin.
Doch der Feuerwehrmann eilte schon weiter.
Drüben, in der Vorhalle der Cardea, sprachen einige Reporter in Mikrofone und Kameras, sie waren gekommen, um über den Vortrag zu berichten, jetzt hatten sie ein größeres Thema. Die Patienten standen dicht gedrängt und guckten zu, viele in Bademänteln und Hausschuhen. Martin konnte Sylvia nicht unter ihnen ausmachen, und als er sie anrufen wollte, merkte er, dass er sein Handy verloren hatte. Fast fiel er über das Absperrband, das quer über die Straße gespannt war.
»Was machen Sie hier?«, fragte ein Polizist. »Sind Sie verletzt? Ihre Hände bluten. Waren Sie mit im Pritschenwagen?«
»Nein«, sagte Martin, »ich bin über den Zaun geklettert, ich will zu meiner Frau.«
»Halten Sie Abstand«, sagte der Polizist, wandte sich gleich wieder ab und sprach in sein Funkgerät, aus dem stoßartiges Rauschen drang, und Martin schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und lief in den Vorhof der Cardea. Er fand keinen Weg durch die unruhige Menschenmenge und blieb an einem Fernsehübertragungswagen von Phoenix stehen. Durch die offene Tür des Wagens sah er auf den Monitor des Technikers. Offenbar hatte es der Kameramann geschafft, bis zum Unfallort vorzudringen, und filmte live, wie sich zwei Männer mit einer Trage dem Pritschenwagen näherten. Die Spurensicherer öffneten die Tür auf der Fahrerseite. Die Kamera zitterte, und es war nicht viel zu erkennen, weil jemand im Bild stand, Martin sah nur, dass ein sitzender Körper vorsichtig aus dem Auto gehoben wurde, erst seitwärts, dann wurde er auf den Rücken gedreht und auf die Trage geschoben, mit dem Oberkörper zuerst. Die Arme fielen herab, die Hände wippten in der Luft, die Kamera zoomte heran und wackelte. Martin sah zuerst den abgesplitterten Lack am Fensterrahmen des silbergrauen Pritschenwagens, die gelben Handschuhe der Spurensicherer, dann fand die Kamera den richtigen Bildausschnitt. Die Leiche hatte keinen Kopf. Der Hals glich einem zerrissenen Rhabarberstrunk, oben erkannte Martin den Querschnitt einer Luftröhre, deren Rand ein
Weitere Kostenlose Bücher