Teufelsberg: Roman (German Edition)
ausgingen. Ihre Lunge füllte sich mit Zähnen aus Stahl, ihr Atem stockte, und mitten in ihrer Brust öffnete der Beißer sein Maul.
Die Rache der Muscheln
E twas fuhr in die glatte, dunkle Fläche ihres Schlafes. Der Geruch nach Schweiß vermischte sich mit dem nach Atem und Haut. Annika wusste nicht, wo sie war, sie hörte nur Lärm. Als sie das Schnarchen erkannte, begann sie zu zittern. Auf ihrem Kopf, zwischen einzelnen Haaren, spürte sie Schweiß, in der Brust zuckten Schrecksekunden.
Aber wenn er schnarcht, dachte sie, dann schläft er.
Sie wusste trotzdem, dass sie hier nicht rauskam. Draußen quoll der Mond aus der Nacht, Annika starrte ihn an. Etwas war anders, sie wusste nicht, was. Sie wünschte sich ein Messer. Das Schnarchen wurde lauter.
Aber der Mond.
Das Fenster war gekippt. Sie roch Aluminium und den moosfeuchten Schmutz in der Innenrille. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Jetzt wusste sie, was anders war. Er hatte die Rollläden nicht geschlossen.
Leise, leise, dachte sie und stellte die Füße auf den Boden. Es waren nur wenige Schritte zum Fenster, es war nur ein Sprung aus dem Hochparterre, sie durfte keinen Fehler machen. Beim letzten Mal hatte sie es nur bis zum Gehweg geschafft.
An einem frühen Morgen im Sommer. Die Kopfsteinpflasterstraße war leer. Der Bahndamm war zugewuchert. Zwischen den Bäumen standen verrostete Zaunstangen, und aus dem Boden des Trampelpfads, der durchs Gebüsch nach oben führte, drangen rostrote Steine. Der Kanal am Ende der Straße roch nach den Halsbeugen der Schildkröten, die Annika als Kind besessen hatte.
Sie rannte am Bahndamm vorbei, sie musste nur das Ufer erreichen, die Wagenburg Lohmühle, und schreien, aber Reimo bekam sie nach wenigen Schritten zu fassen. Er riss an ihrem Mantel aus Leopardenkunstfell, sie hatte ihn in New York gekauft, bei Alice Underground, die Knöpfe fielen auf die Gehwegplatten, in den Ösen sah sie die Bündel aus abgerissenen Fäden. Sie sah die gelben Lindenblätter und die Ritzen zwischen den Gehwegplatten. Man durfte nicht auf die Ritzen treten, zwischen die Platten des Gehwegs. Das hatte ihr Sandy Krause erzählt, damals in Ratzeburg, am Barkenkamp, wo der Wind einen staubigen, warmen Duft über die Weizenfelder trieb. In den Ritzen der Gehwegplatten waren Haie, nur manchmal streckten sie ihre Flossen aus den Wellentälern der Luft.
Sandy hatte dicke, braungebrannte Beine und ein verschlossenes Gesicht. Von ihr lernte Annika alles, zum Beispiel, dass Jesus im Docht der Kerzen lebte. Annika erkannte sein Gesicht, die Flamme war sein Gewand, und die Wachstropfen waren das Blut. Sandy wusste auch, dass in jeder Muschel eine Perle war. Als Herr Krause einen Eimer voll Muscheln von der Ostsee mitbrachte, wollte Sandy sich eine Kette machen. Annika half ihr. Draußen, hinter den Schneebeerensträuchern, auf dem Gitter über dem Schacht des Kellerfensters, öffneten sie die Schalen. Aufgeklappt sahen die Muscheln aus wie Schmetterlinge mit nackten Organen an den Flügeln. Die Muskeln waren gerissen, die Muscheln konnten sich nicht mehr wehren, als die beiden Mädchen ihr Fleisch durchwühlten. Am Ende lagen die offenen Schalen auf einem großen Haufen, etliche fielen durch das Gitter in den Schacht des Kellerfensters. Aber die Mädchen fanden keine Perlen. Sandy wurde ausgeschimpft und Annika nach Hause geschickt. Sie trug einen orangefarbenen Strickpullover mit Kapuze, der in der Abendsonne leuchtete. Annika dachte noch lange an die schwarzvioletten Muschelschalen mit dem gelben Fleisch und an die Haie, die Freunde der Muscheln, die in ihren Wohnungen unter den Gehwegplatten alles mitbekommen hatten und es jedem weitererzählten, der mit den Füßen hören konnte.
Als Reimo sie jagte, in Treptow, in der Kiefholzstraße, als die Mantelknöpfe auf den Gehweg fielen, wäre sie fast in die Ritzen gestürzt. Reimo schlug ihr auf die Ohren, es fiepte, sie hörte nichts mehr, dann seine Stimme von weit her. Er hatte das grau melierte Haar mit einer Schirmmütze bedeckt. Die Mütze passte nicht zu seinem Alter, sein Berliner Akzent passte nicht zu seinem schwäbischen Singsang, und der kurvige Pfeil, den er unter jede seiner Unterschriften setzte, passte nicht zu den offiziellen Briefen.
»Du«, er streckte den Zeigefinger aus, »kommst mit, sonst schlag ich dich blau!«
Er zog sie mit sich. Sie drehte sich um nach den Knöpfen auf dem Pflaster, goldenen Knöpfen mit Ankern darauf, sie stammten von der Kapitänsjacke
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