Teufelsberg: Roman (German Edition)
er. »Ich gebe Ihnen Bedarf.«
Er nahm Annika an die Hand und zog sie mit sich in den Flur, sie folgte mit gesenktem Kopf. Über der Tür blinkte noch immer rot die Alarmlampe, Pfleger Ingo ging zurück, öffnete die gelb gelackte Zimmertür und drehte innen mit seinem Schlüssel den Alarm ab. Im Dienstzimmer füllte er eine Flüssigkeit aus einer braunen Glasflasche in einen kleinen Becher.
»Ich gebe Ihnen zehn Milligramm Diazepam«, sagte er.
Annika zitterte. »Ich konnte ihn riechen«, flüsterte sie.
»Trinken Sie das.«
Der Pfleger hatte eine Halbglatze, hinter der ein fedriges Bündel Haare emporstand, und kleine, wohlgeformte Hände, er reichte Annika den Plastikbecher, sie trank ihn leer, die Flüssigkeit war bitter.
»Noch etwas Wasser hinterher?«, fragte Pfleger Ingo.
»Nicht nötig.«
»Am besten legen Sie sich gleich wieder hin. Es ist ja erst drei. Wenn die zehn Milligramm nicht reichen, kommen Sie wieder.«
Annika nickte.
Pfleger Ingo nickte zurück, dann schaute er auf den Computer und begann zu tippen.
Sie stand noch eine Weile im Flur, vor der Scheibe des Dienstzimmers, und sah dem Pfleger beim Schreiben der Berichte zu. Dann wanderte sie durch den Flur. Sie hörte das Summen der Lampen an der Wand. Unter Lottis Zimmertür war ein Streifen Licht zu sehen, die alte Dame schlief nie im Dunkeln. Am Ende des Flures hing ein Gemälde von Horst Vierer, das Annika oft betrachtet hatte, es war voller Strichmännchen, die von einer Wiese in weiche Kissen fielen. Das Bild sollte einen Albtraum darstellen, den Traum vom Stürzen.
Irgendwas rauschte dumpf, die Heizung oder die Stille selbst. Annika wurde müde. Ihre nackten Füße waren Hohlformen, durch die ein Kühlgel nach oben glitt. Langsam ging sie zurück in ihr Zimmer. Sylvia hatte das Gesicht zur Wand gedreht, an ihrem Atem hörte Annika, dass sie noch wach war. Annika rollte sich in ihrem Bett zusammen und schlief ein.
Die Tür ging auf, Licht schoss ins Zimmer.
»Möchten Sie Milchsuppe?«, fragte Pfleger Ingo.
»Ja bitte.« Sylvia setzte sich auf.
Der Pfleger machte Licht im Zimmer, schöpfte Milchsuppe aus einer Kanne in einen Teller und stellte ihn auf den Tisch. Es war sechs Uhr morgens, dies war der letzte Gang seiner Schicht.
»Sie auch, Frau Fechner?«
»Nein.«
Sylvia erhob sich, ächzte, tastete mit ihren Füßen nach den Schlappen und schlurfte zum Tisch. Sie wandte Annika den Rücken zu, auf dem zerpflückte Haarsträhnen klebten, und schlürfte die Suppe.
Blöde fette Kuh, dachte Annika.
Ihr Gesicht wurde heiß, ihr Herz klopfte schneller. Nach einer Weile schlief sie wieder ein.
»Guten Morgen!«, rief Pfleger Carsten, der in dieser Woche die Frühschicht hatte. »Möchten Sie Obst?«
»Gerne«, sagte Sylvia.
»Sie auch, Frau Fechner?«
»Nein.«
Sie zog sich die Decke über die Ohren. Trotzdem hörte sie, wie Sylvia einen Apfel aß. Als sie endlich aufhörte zu kauen, sank Annika in eine tiefe blaue Schlucht, an deren Grund die Sonne schien und Boote mit rotgestreiften Segeln kreuzten.
»Frau Fechner«, rief Pfleger Carsten, »Blutdruck messen!«
Er legte ihr die Manschette um den Arm. Er war hellblond und rothäutig, er hatte einen Adamsapfel.
»Hundertvierzig zu neunzig. Trotz Diazepam?«, sagte Pfleger Carsten und ließ die Luft aus der Manschette zischen. Er ruckte ein paarmal mit dem Kopf, dann nahm er das Gerät und verschwand.
Sylvia aß immer noch ihre Suppe und las währenddessen die Zeitung, die sie jeden Morgen aufs Zimmer bekamen, ein Service für die Privatpatienten. Annika hörte das Knistern und das Schlürfen. Endlich stieß der Löffel auf den Grund, Sylvia kratzte die Reste weg, der Löffel klirrte auf dem Porzellan. Annika versuchte, ruhig zu atmen.
Sie war gerade eingeschlafen, als die Tür wieder aufsprang.
Diesmal war es die Küchenfrau Ella, mit blondiertem Pferdeschwanz und Haarkämmen aus goldenem Plastik.
»Guten Morgen!«, rief Ella und stellte das Geschirr auf den Tisch, kramte in der Besteckkiste und legte Messer und Löffel hin.
»Was möchten Sie denn haben? Schrippen, Brot, Knäckebrot, Zwieback?«
»Ich hätte gern zwei Scheiben Knäckebrot und zwei Brötchen«, sagte Sylvia.
Halt’s Maul, dachte Annika.
»Ein Vollkornbrötchen und ein weißes«, ergänzte Sylvia. »Marmelade schmeckt auf den weißen Brötchen besser.«
»Am besten auf selbst gebackenen«, sagte Ella. »Die machen wir manchmal zu Hause. Kajzerka.«
»Ach ja, zu Hause. Ich würde auch gern wieder
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