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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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lass ich mich mal drauf ein!«
    Nachdem die Ärztin gegangen war, blieb Annika am Tisch sitzen, ihre Beine zitterten, ihre Knie stießen an die Tischkante.
    Wenn Reimo in Wahrheit sie selbst war, wie die Thewes behauptet hatte, dann gab es keine Annika, dann hätte sie selbst sich zusammengeschlagen. Sie selbst hätte geschrien: »Ich will dich foltern, du Hexe des Wahnsinns!« Sie selbst hätte sich am Hals gepackt, sie selbst hätte sich ins Gesicht geboxt und mit Stahlkappenschuhen von Caterpillar gegen die eigenen Beine getreten.
    Auf einmal gab es kein Außen mehr, es gab nur noch das Innen, das Innerste war ein morphogenetisches Feld, das alles, was es gab, in Reimo verwandelte – und später vielleicht in einen anderen und wieder in einen anderen und in einen anderen, und alle würden ihr wehtun. Annika dachte, ich muss das Innerste vernichten, zu meinem Schutz muss ich wahnsinnig werden.
    Auf dem Weg zu Vosskamp schaute sie aus dem Fenster in den Park. Sie erkannte ihren Mitpatienten Xaver. Der dunkelhaarige Mann mit den langen, knochigen Gliedern trat an eines der Gartenfahrzeuge, einen silbergrauen Pritschenwagen, und nahm eine Spitzhacke und einen Spaten von der Ladefläche. Damit ging er zum Fuß des Baukrans. Dort blieb er stehen, als würde er lauschen. Annika winkte durch das Fenster, aber er sah sie nicht, obwohl er zwischendurch in ihre Richtung blickte. Schließlich begann er, mit dem Spaten ein Loch zu graben, nach einer Weile machte er mit der Spitzhacke weiter. Plötzlich legte er sich bäuchlings in den Schnee und starrte in das Loch. Der Himmel lag wie ein Quader auf der Landschaft, ein feiner Schneeregen setzte ein. Doch Xaver rührte sich nicht.
    »Irgendwas stimmt nicht mit Herrn Walpersdorf«, sagte Annika zur Begrüßung. Es war ihre erste Stunde bei Vosskamp in seinem Büro im zweiten Stockwerk des Nordturmes, den alle den »Thera-Tower« nannten, weil ganz oben unter der Kuppel die Tanz- und Musiktherapien stattfanden. Der Professor wippte in seinem Sessel.
    »Sie identifizieren sich mit Herrn Walpersdorf?«
    »Nein, ich mache mir Sorgen, er hat draußen ein Loch gegraben und starrt hinein. Er liegt auf der Erde, das ist doch viel zu kalt.«
    Sie versuchte, an die Zwanzigerjahre zu denken, weil sie damals nicht schüchtern war. Vosskamp, stellte sie sich vor, war ein Charleston-Tänzer, der fleischig geworden, aber noch immer beweglich in den Hüften war. Die seitlich gescheitelten, kurzen blonden Haare und die blauen Augen gaben ihm einen anachronistisch-deutschen Ausdruck.
    »Heute Nacht hatten Sie einen Anspannungszustand?«, fragte er.
    Annika nickte.
    Er zog die Brauen zusammen. »Das müssen wir ernst nehmen.«
    »Ja«, hauchte Annika und senkte den Kopf. Die Zwanzigerjahre verschwanden, ihr Mund wurde trocken, in ihrer Kehle knackte es.
    Vosskamp schwieg.
    Ich werde es sagen, dachte sie, auf drei. Eins, zwei, drei. Sie holte tief Luft. Eins, zwei, drei.
    Durch das gekippte Fenster hörte sie den Wind und drinnen das Ticken eines kleinen Weckers auf dem Sofatischchen. Irgendwann sah sie auf. Als ihr Blick den von Vosskamp traf, blitzten seine Augen, die Atmosphäre änderte sich, sie wurde glitzernd, und irgendwas Komisches lag in der Luft. Annika wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Durch die Turmfenster konnte sie auf das Dach der Cardea blicken, die Halbkugeln aus Glas bildeten einen starren Riesenschaum. Darunter sah sie schattenhafte Bewegungen, es waren die Menschen der fünften Etage, die durch ihre Zimmer oder den Flur gingen, und ihr wurde klar, dass Vosskamp von hier aus alles beobachten konnte, als würde er von oben in eine Puppenstube schauen.
    »Sie sehen ja wirklich alles«, sagte sie.
    »Das ist mein Beruf.«
    Er hörte auf zu wippen und lehnte sich zurück. Er sah jetzt so aus, als hätte er ein Oberlippenbärtchen, aber in Wirklichkeit war da keins. Annika dachte an Joseph. Wenn sie betrunken waren, wenn die Luft in grobe Pixel zerfiel, trug er ein Monokel, und seine strähnigen Haare lösten sich aus dem Zopf und legten sich von selbst in Wasserwellen.
    »Was habe ich denn?«, fragte sie. »Ich meine, was für eine Krankheit?«
    Vosskamp lächelte väterlich: »Sie sind halt ein Sorgenkind.«
    »Aber bin ich verrückt oder so was?«
    »Ach, was heißt schon verrückt.« Er hob die Hand und machte schnelle, flatternde Schraubbewegungen. »Verrückt sind wir doch alle. Die Welt, wie wir sie sehen, ist nur ein Konstrukt des Gehirns. Der eine konstruiert sie

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