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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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Jungen später selbst aufzieht?«
    Für einen Moment wurde Falkos Gesicht leer. Dann lächelte er. »Der kleine Kuckuck wird so lange versuchen, die anderen aus dem Nest zu werfen, bis er vor Erschöpfung stirbt.«
    »Aber warum?«, fragte sie.
    »Weil er ist, was er ist.«
    Die Oberärztin rief Annika ins Zimmer, reichte ihr zur Begrüßung eine kühle, leichte Hand und setzte sich an den Tisch. Annika nahm gegenüber Platz. Dr. Christa Thewes war klein, sie hatte einen dunklen Pagenschnitt mit grauen Strähnen, eine kleine, wächserne Nase und schmale Augen mit dicken Lidern. Der Pfleger und die kurzhaarige Praktikantin blieben während der Visite an der Tür stehen.
    »Sie hatten heute Nacht einen Anspannungszustand?«, fragte die Ärztin.
    »Albträume«, sagte Annika. »Und die hören nicht auf, wenn ich wach bin. Das ist so schrecklich.«
    »Sie nehmen ziemlich viel Diazepam. Wir müssen das langsam auslaufen lassen, sonst geraten Sie noch in eine Abhängigkeit. Und wir wollen doch, dass Ihre Probleme hier weniger werden und nicht mehr, oder?« Sie lächelte freundlich.
    »Frau Berger schnarcht«, sagte Annika. »Alle haben mich ständig geweckt. Warum geben Sie mir erst Diazepam und hindern mich dann am Schlafen?«
    »Sie sprechen so leise. Sind Sie noch stark unter Spannung?«
    »Weiß nicht.«
    »Aber ich muss wissen, wie es Ihnen geht, Frau Fechner. Sonst kann ich Ihnen doch nicht helfen.«
    »Ach so.«
    »Wir haben hier alle den Eindruck, dass Sie sich gegen die Therapien sperren. Versuchen Sie doch mal, sich mehr darauf einzulassen. Heute haben Sie eine Einzelstunde beim Chef und anschließend Tanztherapie. Und die offene Ergo können Sie auch immer nutzen, nicht nur die feste Stunde am Freitag.«
    »Und die Albträume?«
    »Ja, da müssen Sie mal bei sich gucken, welche inneren Anteile das sind, die sich da melden, die da von Ihnen abgewehrt werden und Ihnen darum solche Angst machen.«
    Plötzlich war Reimos Gesicht wieder da, der Geruch seiner Füße in den Wollsocken und die Bewegungen, mit denen er seine Schirmmütze aufsetzte und sein Zippo in das Ledertäschchen am Gürtel steckte. In einem anderen Gürteltäschchen trug er eine Taschenlampe, die er nie brauchte, und den Haustürschlüssel machte er mit einem Karabiner an der Gürtelschlaufe fest. Das alles tat er jedes Mal in der gleichen Reihenfolge, bevor sie zusammen in die Wiener Straße gingen, ins Logo. Sie setzten sich an den Tresen und tranken bis in die Morgenstunden.
    Reimo redete: »Alles richtet sich nach morphogenetischen Feldern. Anders lässt sich das nicht erklären, dass die Menschen überall und zeitgleich das Feuer entdeckten. Und die Sprache und die Schrift und so weiter.«
    »Ist Kreuzberg auch so ein morphogenetisches Feld?«, fragte Annika. »Eins, das die Menschen zu Verlierern macht?«
    »Du musst das erst mal lesen, bevor du von Verlierern laberst, das Buch von dem, dem Dingsda, wie die Felder das alles machen überall, und das gilt nicht nur für die Biologie, sondern für alles, für Philosophie und Mathematik und alles.«
    »Aber woraus sind denn die Felder? Und sind sie manchmal auch negativ? Und warum sind sie mal da und mal nicht?«
    »Die sind immer da. Die geben alles vor.«
    Reimo schlenkerte sein Zippo, es fiel ihm aus der Hand. »Peng!«, rief er.
    Annika wusste nicht viel. Sie wollte in den Zwanzigerjahren leben, sie wollte erotisch sein, Zigarillos mit silbernem Mundstück rauchen und Spitzenhandschuhe tragen. Sie tat es gelegentlich, im Logo. Sie hatte die Schwelle vom Träumen zum Lügen noch nicht überschritten.
    »Warum gehst du nicht auf die Bohème Sauvage?«, hatte sie mal einer gefragt. »Auf die Zwanzigerjahreparty in Mitte?«
    Sie hatte noch nie von der Party gehört, sie las keine Zeitung, und auf Facebook kannte sie keinen ihrer Freunde persönlich. Sie wäre gern auf die Party gegangen, nachdem sie davon erfahren hatte, aber sie traute sich nicht.
    Annika fand das Leben nicht. Sie wartete, bis es zu ihr kam, bis irgendwas passieren würde. Aber alles blieb wie früher, als die Haie zwischen die Gehwegplatten passten und Jesus in eine Kerzenflamme, als die Muscheln für Perlen starben, die es nicht gab. Sie dachte oft an ihr Elternhaus am Barkenkamp, an den Geruch der Weizenfelder und ihre pastellgrüne Farbe. Die Eltern hatten ihr eine Kindheit mit Reitstunden, Playmobil und Gartenschaukel geschenkt und ihr dann stumm beim Erwachsenwerden zugesehen.
    Sie wurde ein schönes Mädchen mit

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