Teufelsberg: Roman (German Edition)
das Säckchen gefüllt?«
Die wilde Kapusta prustete, ihre Brauen zuckten spitzbübisch nach oben.
»Sie müssen noch mal an Ihr Distanzproblem ran, Frau Kapusta, aber dringend! Wir machen weiter mit der nächsten Übung. Nachdem wir das Erspüren der Säckchen geübt haben, wollen wir uns erspüren und unsere Hände erforschen. Machen Sie bitte die Augen zu und geben sich gegenseitig die Hände.«
»Tschaka, Alpaka! Dann wollen wir mal«, sagte Falko zu Annika, grinste, rückte seine Schirmmütze zurecht und hielt ihr mit galantem Schwung die Hand hin, als wolle er sie zum Tanz auffordern.
Reimo packte Annikas Hand. Sie war betrunken, sie wollte nach Hause. Sie war durchs Gebüsch gestolpert und hatte es bis zur Straße geschafft, die Fassade der Patisserie leuchtete blau im Laternenlicht. Reimo riss Annika mit sich, zum Ufer, hier war kein Mensch, nur die Schule, dann kam schon die Brücke aus Stahl. Die Schritte klangen wie auf einem Schiff. Der Spielplatz am anderen Ufer lag stumm in der Nacht. Annika dachte an Kinderschänder, als sie die leeren Gerüste sah, die Wippen, die Schaukeln. Die Luft war warm, dann kam der Mauerstreifen, dann kam der stinkende Bahndammtunnel, die Jordanstraße, die Kiefholzstraße, die Haustür, der Schlüssel, der Stoß. Annika sah noch einmal zurück, nach oben, es war ein Kometenblick, und dann begann das Dunkle.
Auf einmal riss Annikas Körper auf wie eine von Sandys Muscheln, auf einmal war sie der Schmetterling, an dem die nackten Organe hingen. Jemand hatte sie angepinnt, und in sie drang irgendwas Kaltes, ein Reißzahn, der ihr Gedächtnis zerfetzte, sie konnte sich nicht mehr bewegen. Die Haie stiegen aus den Gehwegritzen, sie hatten darauf gewartet, jahrelang, im Relief der Tapete, im Hohlraum der Angst, jahrelang, und schnappten sich Annika jetzt, da sie groß war.
Annika stöhnte, und als sie den Kopf hob, sah sie in Falkos ratloses Gesicht. Er hielt noch immer ihre Hand.
»So, setzen wir uns alle in den Kreis«, rief die Tanztherapeutin aus einer Ecke, »und lassen das Erlebte ausklingen. Fangen Sie doch mal an, Herr Sprenger. Wie war das für Sie?«
»Ich glaube, Frau Fechner geht es nicht gut.«
»Frau Fechner«, wandte sich die Tanztherapeutin an Annika. »Wie haben Sie das denn empfunden? Geben Sie doch mal Rückmeldung!«
»Die Übung war nicht gut für mich«, flüsterte Annika.
»Sie hätten doch Nein sagen können! Hier wird niemand zu was gezwungen, das wissen Sie doch!«
Annika schaute auf den anthrazitfarbenen Teppichboden und verstand nicht mehr, was um sie herum gesagt wurde. Sie dachte an einen Engel aus Stahl, er schwebte durch blaue Venen, durch Säle aus purpurnen Häuten.
Auf einmal war sie in der Medienlounge, im Internetraum im Parterre der Cardea mit Apple-Computern auf gläsernen Tischen. Auf ihrem Bildschirm sah Annika Karten, offenbar hatte sie Solitaire gespielt und Patiencen gelegt. Jetzt war sie selbst ein Spielkartenstapel, und alle Karten flogen davon, Kreuze, Asse, Herzen und Piks, bis nichts mehr von ihr übrig war.
Sie klickte ein neues Fenster auf, googelte »Pulsaderschnitt«. Schon das zweite Bild auf dem Schirm zeigte ihr den Verlauf der Arterie.
Seit sie in der Cardea war, hatte Annika ihr Fleisch bestellt wie einen Garten. Ihre Haut war voller Saatrinnen, in denen knotige Narben wuchsen. Inzwischen hatten die Schwestern und Pfleger die Klingen aus ihren Verstecken geholt, aus dem Kleidersaum, dem Cremetopf, dem Haarband, der Zahnseidedose, dem Handy. Nur das Versteck an der Magnetwand hatten sie nicht entdeckt, vielleicht weil es zu auffällig war. Annikas letzte Rasierklinge steckte unter einem großen Magneten in Form eines Marienkäfers.
Sie nahm die Klinge und schloss sich im Bad ein. Sie war ein Foto, ihr Blut das Licht der Dunkelkammer. Überall waren Gesichter, Joseph, Sandy und die stummen Eltern und überall Reimo, Billi-Reimo, Falko-Reimo, Reimo-Reimo, überall.
Vertrauen Sie uns. Aber Vertrauen war Eis auf dem Ratzeburger See, darüber schrammte ein Geigenbogen. Sie hätten doch Nein sagen können. Aber es gab kein Nein, nur die zerrissenen Muskeln der Muscheln.
Annika sah in das Licht über dem Badezimmerspiegel, sie sah in die Milch der Sterne. Irgendwas Schlimmes war dahinter, aber Annika wusste nicht, was.
Sie wurde hochgehoben, einer packte ihren Arm und hielt ihn über das Waschbecken, das Blut lief in dicken Bahnen hinein, ein anderer machte einen Druckverband. Annika schloss die Augen.
»Spielen
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