Teufelsberg: Roman (German Edition)
eine rostige Stahlskulptur ragte in den Himmel. Sonst war nichts mehr da, keine Pullman-Limousine, kein Kommunismus, nur Kreuzberg und die Morgendämmerung.
»Dein Joseph ist ein totaler Knallkopf«, sagte Reimo.
»Joseph und ich sind seelenverwandt«, sagte Annika.
»Schwachsinn.«
»Aber das mit dem Teufelsberg war genial.«
»Das schafft er doch nie, da draufzusteigen. Nie.«
»Es geht doch nur um die Möglichkeit. Warum verstehst du das nicht?«
»Weil es Schwachsinn ist. Ich muss was essen.«
»Ich habe keine Spaghetti mehr«, sagte Annika. »Außerdem will ich allein sein.«
In der Wrangelstraße waren an jeder Wand Plakate, so oft überklebt, dass sich die Schichten nach außen wölbten. Die Wände und Türen, selbst die Mülleimer waren mit Graffiti übersät. Es roch nach Ziegeln und Gemüse. Reimo machte beim Imbisstürken halt und kaufte zwei halbe Hähnchen. Danach schob er Annika durch den Flur ihres Hauses und die Treppe rauf in den vierten Stock.
»Aber ich will allein sein«, sagte sie.
»Na klar.«
Annikas Wohnung war klein, von den Türrahmen blätterte die Farbe, aus dem Küchenfenster sah sie den Hof der Fichtelgebirge-Grundschule. Auf dem Balkon gegenüber trocknete ein Maler seine Bilder, große Leinwände mit ineinander verfließenden Farbflächen, die nach Terpentin rochen. Reimo zog sich bis auf die Unterhose aus, bevor er zu essen begann. Er beugte sich über den Pappteller, ab und zu sah er mit leeren Augen auf. Seine Haut war glatt, die Brustwarzen hatten einen Hof aus Haaren. Seine Finger wurden fettig, er atmete laut durch die Nase, während er kaute.
Was soll ich mit diesem fressenden Mann, dachte Annika, und mit seinen bescheuerten morphogenetischen Feldern.
Das Fenster stand offen, draußen war es leise geworden, nur am Himmel sirrten die Sterne. Sie nahm die Papiertüte mit ihrem Hähnchen und warf es hinaus. Reimo sprang auf. Ohne ein Wort zu sagen, schlug er Annika ins Gesicht.
»Aber es war doch ein Hähnchen«, sagte sie, »und Hähnchen müssen doch fliegen.«
Reimo schlug ein zweites Mal zu, sie fiel auf den Küchenboden, auf das schwarz-weiß karierte PVC. Da blieb sie liegen und dachte an nichts.
Wegen ihr war Reimo nach Berlin gezogen, er kam aus Stuttgart, er wohnte im Haus seiner Eltern, über ihnen. Er hatte als Bühnentechniker für ein Stuttgarter Tourneetheater gearbeitet, jetzt wurde es abgewickelt, und er war pleite. Seine Berliner Wohnung war kalt, sie roch auch im Sommer nach Braunkohle. Im Zimmer stand eine aufgebockte Sperrholzplatte mit Reimos PC, davor ein Stuhl.
»Ich muss Schluss mit dir machen«, sagte Annika ein paar Tage später, als die roten Striemen in ihrem Gesicht verblasst waren.
Sie saß auf der Matte, er am Schreibtisch.
»Nein«, sagte Reimo, »du machst nicht Schluss. Ich bin wegen dir nach Berlin gezogen.«
»Aber wir passen ja gar nicht zusammen.«
»Du machst nicht Schluss.«
»Doch.«
Sie machte Anstalten, zu gehen. Da nahm er ein Spannseil aus der großen Werkzeugkiste, machte einen Henkersknoten hinein, band es an die Gasleitung im Flur und legte sich die Schlinge um den Hals. Annika wählte 112, aber Reimo stürzte zum Telefon und presste die Hand auf die Gabel. Dann schloss er die Haustür ab und ließ die Rollläden herunter.
Die Thewes räusperte sich. »Frau Fechner?«, sagte sie mit ihrer mädchenhaften Stimme. »Sind Sie noch bei mir?«
Annika sah auf, und wie so oft in den letzten Monaten kam sie nur langsam in die Gegenwart zurück. Die Vergangenheit lag in einem Vakuum, das keinen Schall nach außen ließ, darum konnte Annika nicht darüber sprechen. Aber die Ärztin sah sie sanft an. Als sie neulich Blut abgenommen hatte, hatte Annika nichts gespürt.
Ich versuche es einfach, dachte sie, und holte tief Luft. »Das sind aber keine eigenen Anteile in meinen Albträumen. Das ist ein anderer, von dem ich träume.« Ihr Herz begann zu rasen.
»Sie spalten das also ab?«, fragte die Thewes.
»Nein, ich rede von einer Person, die es wirklich gibt, die mir real Angst macht!«
»Ja, wir träumen oft von realen Personen, aber die verkörpern eben auch innere Anteile. Das ist manchmal schwer zu akzeptieren, vor allem wenn wir mit diesen Personen nicht identifiziert sind.«
»Sie verstehen mich nicht, Sie hören mir gar nicht zu!«, rief Annika und brach in Tränen aus.
»Lassen wir das mal so stehen.«
Annika schwieg.
»Frau Fechner. Wir wollen Ihnen doch helfen. Sagen Sie sich doch einfach mal, hey, da
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