Teufelsberg: Roman (German Edition)
schwarzen Haaren und hellblauen Augen, und sie wusste nie, was sie sagen sollte. Wenn sie im Logo einen Mann traf, lächelte sie, bis es Nacht war. Sie traute sich nicht, ihn sitzen zu lassen, meistens ging sie am Ende mit.
Sie ging auch mit Reimo, und am Abend traf sie ihn im Logo und lächelte stumm, und wieder ging sie mit, Abend für Abend, bis er sagte, sie seien ein Paar. Sie wusste nicht, wovor sie Angst hatte, er kochte ihr nachts Spaghetti, weil sie davon wieder nüchtern wurde, er nannte sie »Spatz«. Tagsüber fuhr sie zur Uni, sie musste Szondi und Flusser lesen.
»Je weiter das Schreiben fortschreitet, desto tiefer dringt der schreibende Reißzahn in die Abgründe der Vorstellungen, die in unserem Gedächtnis lagern, um sie zu zerreißen«, zitierte sie.
»Elitescheiß«, sagte Reimo.
Er nannte seinen Computer »Brummi«, als Bildschirmschoner drehte sich ein Sowjetstern im Kreis. Wenn Annika Reimo besuchte, saß er am PC, und sie saß hinter ihm und starrte seinen Rücken an und dachte an das Leben.
Im Logo bekamen sie Freibier, weil Joseph, der Wirt, Annika aus den Zwanzigern kannte und weil er Kommunist war und weil sie den Kleinen Trompeter singen konnte. Immer wenn sie betrunken waren, sprachen sie über ihr gemeinsames vorheriges Leben. Sie hatten in den Zwanzigern einen Chauffeur gehabt, der Annika in der Pullman-Limousine von Horch durch die Gegend fuhr, in den Chausseepalast und ins Romanische Café, wo sie schön zwischen Schriftstellern saß und alle in ihren Bann zog. Auf der Rückfahrt schlief sie mit dem Chauffeur, das gestand sie Joseph erst heute. Er tobte.
»Deswegen bin ich Kommunist geworden! Um alle Chauffeure abzuschaffen. Damit du mit keinem mehr schlafen kannst!«
Bevor er morgens die Kneipe schloss, spielte er die Kampflieder der FDJ.
Am Tresen saß Reimo und trank Kristallweizen und Ouzo. Er schwieg schon seit Stunden, und wenn er mal kurz etwas sagte, warfen sich Joseph und Annika Blicke zu. Reimo war nie in den Zwanzigern gewesen, Joseph nannte ihn »Quarzuhr-Heini«, Annika lachte darüber.
Irgendwann versagte ihr Kreislauf, aus ihrem Gesicht drang der Schweiß, als würde man ein Leinentuch voll Quark ausdrücken. Joseph machte ihr einen doppelten Espresso und presste eine Zitrone darin aus. Annika trank, den Mund verzog sie schon lange nicht mehr. Sie hatte eine Handtasche voller Schminkzeug dabei, sie schwankte zur Toilette, tupfte das verschwitzte Gesicht mit einer Puderquaste ab und zog sich den Lidstrich nach. Sie konnte das, obwohl sich alles drehte.
Der nackte Rand des Toilettenbeckens war fleckig, sie dachte an ihre Mutter. Die Mutter hatte ihr nie erklärt, dass man sich auf öffentliche Toiletten nicht setzte, sondern halb in der Hocke pinkelte. Sie hatte ihr eigentlich gar nichts erklärt, auch der Vater nicht. Annika taten die Kinder in Afrika leid, aber sie wusste lange nicht, was Breitengrade waren. Auf die Fragen von »Wer wird Millionär« im Fernsehen wusste sie selten die Antworten. Sie kannte Irving Berlin nicht, und die Frankfurter Schule hielt sie, bis sie Mitte zwanzig war, für eine Kunstrichtung. Die Mutter hatte ein schmales Gesicht voller Aknenarben und Schwermut. Die Schwermut war eine Maske, dahinter lag ein weites Land. Schon seit sie klein war, wollte Annika in dieses Land der Mutter hineinreisen. Aber sie kam nur bis New York, wo sie den Leopardenmantel kaufte, aus Kunstfell, bei Alice Underground.
Als sie zurück an den Tresen trat, sah Joseph nachdenklich vor sich hin. Er hatte ein junges, aufgedunsenes Gesicht.
»Morgen steigen wir auf den Teufelsberg«, sagte er. »Vor Sonnenaufgang. Also eigentlich schon heute.«
»Auf den Teufelsberg?«, fragte Annika.
»Ja, und damit beginnt ein neues Leben.«
»Wie das?«
»Wenn wir es schaffen«, erklärte Joseph, »betrunken und verkatert und verworren wie wir sind, vor Sonnenaufgang loszugehen und auf den Teufelsberg zu steigen, dann wird sich das Leben von Grund auf ändern. Weil hinterher alles möglich wäre. Der Teufelsberg ist unsere Hoffnung. Wir müssen bloß heute noch hin.«
»Joseph, das wird doch nichts. Sobald wir wieder nüchtern sind, werden wir das für Schwachsinn halten.«
»Und das wissen wir auch. Aber jetzt besteht noch die Möglichkeit. Die reine Möglichkeit des Lebens. Das ist doch was.«
»Ja«, sagte Annika, »das ist was.«
Später ging sie durch den Görlitzer Park nach Hause, Reimo kam mit. Drüben leuchteten die roten Nachtlichter der Emmauskirche,
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