Teufelsberg: Roman (German Edition)
die hat Ihnen nichts getan!«
Xaver warf einen Blick auf seine geröteten Fingerknöchel. »Ich kann es denen nicht sagen«, flüsterte er Carsten ins Ohr, »damit keine Panik entsteht. Wir müssen evakuieren. Lassen Sie mich mit der Verwaltung sprechen.«
»Besprechen Sie das mit Professor Vosskamp«, sagte Pfleger Carsten. »Sie sehen ihn ja gleich bei der Visite und anschließend in der Therapie. Wollen Sie denn nichts frühstücken?«
Du Depp, dachte Xaver. Er sprach es nur deshalb nicht aus, weil er nicht auf die B zu den Irren wollte. Er durfte hierbleiben, solange er sich zusammennahm.
»Natürlich sind wir hier genauso irre wie die auf der B«, korrigierte er seinen Gedanken laut. »Aber drüben geht der Wahnsinn barfuß, während er hier im Aston Martin fährt. Was Raserei zur Folge haben kann.«
Er setzte sich an den Tisch, der Pfleger verließ den Wintergarten.
»Bitte, nimm dir«, sagte die alte Lotti und hielt Xaver den Brotkorb hin.
An ihrer ebenmäßigen Nase und den zwar eingefallenen, aber immer noch geschwungenen Lippen erkannte Xaver, wie schön sie einmal gewesen sein musste. Das Gesicht hatte seine schlanke Form bewahrt, die faltige Haut erinnerte an einen leeren, geriffelten Sandstrand. Neben Lotti saß Sylvia mit den rotbraunen Locken und den Blutergüssen im Gesicht. Am anderen Ende des Tisches thronte der demente Friedrich, und sein Zimmergenosse Falko aß verschlafen ein Nutellabrot. Beate kam gerade vom Rauchen zurück, ihre Hüften waren knochig, und ihr Gang über die kleine Treppe, die vom Flur in den Wintergarten führte, war wackelig.
»Wo ist denn die kleine Annika geblieben?«, fragte Xaver.
»Auf der B, seit gestern«, sagte Beate, »Selbstmordversuch.«
»Kopf ab?«, fragte Falko.
»Wieso Kopf ab?«
»Na, weil wir das neulich diskutierten. Sorry, blöder Witz.«
Auch heute war Falko wieder mit polierten Schuhen und Jackett im Wintergarten erschienen, und er war immer noch unnatürlich bleich. Sein Gesicht war kantig und proletarisch, zugleich hatte es feine, gequälte Züge. Ihm fehlt das K. S., dachte Xaver. Jeder Irre unter Irren wird schneller vornehm als gesund, aber der braucht wohl etwas länger.
»Aber wir sollten dieses Thema aussparen«, sagte Beate und legte die Hand an ihren Kiefer. Sie hatte sich noch nicht frisiert, ihr blondiertes Haar hing herunter, was ihre Nase größer und die Augenringe tiefer wirken ließ.
»Ich dachte immer, deine Föhnfrisur würde dich alt machen«, sagte Xaver, »aber sie macht dich tatsächlich jünger. Das sehe ich jetzt erst, wo du ungeföhnt bist.«
»Vielen Dank.«
»Außerdem«, fuhr Xaver fort, »ist das Reden über Selbstmord ungefährlich. Reden kostet Zeit, und die hohe Kunst des Suizids erfordert Schnelligkeit. Wenn ihr nicht rasch und entschlossen handelt, ist der Wunsch zu sterben vorbei, bevor ihr tot seid.«
»Dann müsst ihr die hohe Kunst der Wunschverlängerung lernen«, sagte Falko, und Xaver bemerkte, dass alle drei Frauen, Sylvia, Beate und sogar die alte Lotti, zugleich den Mund aufmachten, um ihm zu antworten. Sylvia war am schnellsten.
»Als ich klein war, habe ich mir einen Affen gewünscht. Ich wusste, der Wunsch würde irgendwann aufhören. Ich habe mir deshalb vorgenommen, den Affen trotzdem zu kaufen, auch wenn ich ihn nicht mehr wollen würde. Jetzt will ich den Affen tatsächlich nicht mehr. Also werde ich ihn nicht kaufen. Man kann einen Wunsch nicht verlängern.«
»Du musst den Affen trotzdem kaufen«, sagte Falko.
»Aber ich will ihn nicht mehr.«
»Vielleicht ist der Affe deine Rettung.«
»Rettung? Vor was?«
»Vor der Beliebigkeit der Zukunft.«
»Aber der Wunsch nach dem Affen war kindisch!« Sylvia lachte irritiert. »Und nun bin ich erwachsen.«
»Sylvia hat recht«, warf Lotti leise ein, »es ist nicht möglich, sich nicht zu verändern. Diesen heroischen Selbstbetrug können die meisten Menschen nicht leisten.«
»Sylvia soll nur einen Affen kaufen«, sagte Falko, »sie soll nicht über sechzig Jahre lang auf ihren Verlobten warten.«
Lotti senkte den Kopf. »Das war nicht nett«, flüsterte sie.
»Und der Artenschutz?«, fragte Beate.
Falko lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Seine schmalen grünen Augen waren noch stumpf vor Müdigkeit.
»Wenn Sylvia einen Affen kaufen geht«, erklärte er, »kommt sie zuerst aus der Klapse weg. Dann reist sie während der Affensuche durch Afrika, Südamerika und Indien, sieht die Welt, nimmt ein paar
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