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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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dagegen tun, schon seit Wochen nicht. Aber im Gegensatz zu den Lichtern der Stadt waren seine Gedanken nicht weich, sondern hart, schabten an ihm herum und brachen in sein Bewusstsein, oft an mehreren Stellen zugleich.
    Er drehte sich zu seinen Mitpatienten um. »Stellt euch vor, dass die Stadt da hinten voller Leiber ist! Voll scheißender, pissender, fressender, fickender Leiber! Eine Schlangengrube aus Gedärmen, Schwänzen, Fotzen, Mündern, und alles windet sich ineinander und umeinander und sondert tonnenweise Sekrete ab. Das genau ist die berühmte Aussicht der ersten Klasse. Dafür gebt ihr euer Geld aus.«
    Keiner sah auf. Wie jeden Mittwoch waren die Patienten der 5A auch heute, am 19. Januar, zum gemeinsamen Frühstück zusammengekommen und hatten sich im Wintergarten an den Tisch gesetzt. Er war mit weißem Porzellan gedeckt, die Teller und Tassen trugen das goldene Emblem der Cardea, ein Schlüsselloch, umrahmt von einem Kranz.
    In weißen Schalen lagen Plastikpäckchen mit Marmelade, Frischkäse, Teewurst und Nutella. Die Salami war aufgefächert und mit angetrockneten sauren Gurken garniert. Der Butterkäse auf der ovalen Platte war zerfetzt, weil die Scheiben zusammenklebten und schon mehrere Patienten versucht hatten, mit dem Messer eine Scheibe abzulösen. Draußen war es noch dunkel, nur im Schnee auf den Baumkronen fing sich das erste Licht.
    Pfleger Carsten, der die Frühschicht hatte, stellte die Thermoskannen mit Kaffee und heißem Wasser aufs Buffet, neben die Schachteln mit den Teebeuteln.
    »Herr Walpersdorf«, sagte er und ruckte mit seinem roten Kopf, »achten Sie doch bitte auf Ihren Ton.«
    »Darf man hier keinen Gedanken mehr aussprechen?«, fragte Xaver.
    »Doch, solange Sie Rücksicht auf die anderen nehmen.«
    Die Blätter der Zimmerpalmen kreuzten sich mit den silbrigen Lichtstrahlen der Halogenleuchter. Die ausgewölbten Scheiben des Wintergartens waren entspiegelt, darum ließ sich nicht unterscheiden, wo das Gebäude aufhörte und wo die Welt begann, Xaver merkte es erst, als er gegen die Scheibe schlug. Das Geräusch seiner Fäuste war dumpf. Und während er in den dunklen Morgen schaute, kam ihm eine neue Idee.
    Die Zeit, dachte er, ließ sich an den Ereignissen messen, die Dauer am Stillstand. Je mehr Ereignisse auf den Stillstand trafen, umso schneller wurde die Zeit. Und je weniger Ereignisse auf den Stillstand trafen, umso schneller wurde die Dauer, sie raste dann auf die Ewigkeit zu. Aber weil niemals nichts geschah, konnte sie sich der Ewigkeit nur nähern, und irgendwann warf die Zeit die Dauer wieder zurück.
    »Zeit und Dauer kämpfen um die Weltherrschaft!«, rief Xaver. »Gott ist die Dauer, der Teufel ist die Zeit. Denn die Zeit besteht aus Ereignissen, und die lösen einander ab, zerstören sich gegenseitig. Und weil der Teufel das Sinnbild der Zerstörung ist, ist er zugleich das Sinnbild der Zeit. Habt ihr das verstanden?«
    Wieder gab niemand Antwort, nur der demente Friedrich fragte: »Sind wir noch auf dem Schiff?«
    Die anderen tranken ihren Kaffee oder Tee, und keiner machte den Eindruck, als würde er Xaver bewusst oder gar bemüht ignorieren. Immer wenn jemand die Nerven verlor, weinte, kreischte, randalierte, verwandelten die Patienten sich in Diener, die zurücktraten und mit den Wänden verschmolzen, sobald ihr Herr den Palast durchschritt. Das lernte hier jeder nach wenigen Tagen von selbst. Nur die Neuen sahen noch hin, wenn einer sich nackt am Boden wälzte oder mit Außerirdischen sprach. Xaver nannte diese Form des Schweigens das Klapsmühlenschweigen. Ihm war klar, dass dieser Begriff das Gütige und Diskrete nicht fasste, das diesem Schweigen zugrunde lag. Es war ganz anders, als wenn Eltern ein trotzig brüllendes Kind ignorierten. Maßregelungsschweigen, sagte Xaver zu diesem Schweigen der Eltern. Auch bei den Pflegern und Ärzten traf er oft auf Maßregelungsschweigen. Aber nie bei den Patienten der Cardea. Und als Xaver an diesem Morgen am dunklen Fenster des Wintergartens stand und in die Runde der Mitpatienten blickte, die seiner Aufregung mit Klapsmühlenschweigen begegneten, empfand er Zärtlichkeit für sie. Man muss den Begriff abkürzen, dachte er, dann verliert sich die negative Konnotation.
    »Euer K. S. ist lieb, aber unangebracht«, rief er in die Frühstücksrunde, »ich bin nicht verrückt, ich werde euch retten!« Er trommelte wieder gegen die Scheibe.
    Pfleger Carsten nahm Xaver am Arm. »Lassen Sie bitte die Scheibe in Ruhe,

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