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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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Oberärztin, Dr. Thewes, von Agatharied.
    »Das muss schwer für Sie gewesen sein«, sagte sie, »der kleine Bruder sollte alles erben, und Sie gehörten nicht dazu.«
    »Ich war halt ein Lediger«, sagte Xaver und beobachtete, wie die Thewes etwas in ihren Block schrieb. Der Stift war weißgrau und dicker als ihre Finger, der Druckknopf war den Fenstern der Cardea nachempfunden. Xaver gähnte, die Ärzte hatten ihm in der Notaufnahme Lorazepam gegeben. Das Medikament reduzierte die Brandung seiner Gedanken auf ein laues Schwappen, was ihn ärgerte. Aber auch sein Ärger war müde – und sein Ärger über die Müdigkeit des Ärgers.
    »Ihre Mutter und Sie, wurden Sie geächtet in diesem kleinen katholischen bayerischen Dorf?«, fragte die Thewes.
    »Nein«, sagte Xaver. »Ich habe die Kühe gehütet, im Herbst, wenn die Zäune runter waren, und gesehen, wie nach der Ernte das Heu, das zu weit aus dem Wagen hing, auf dem Grasstreifen in der Mitte des Weges hängenblieb, die Halme griffen nach dem grauen Heu. Ich habe den kurzen, schnellen Wind gehört zwischen den Bäumen, er roch nach Harz. In meiner Kindheit hat es immer geraschelt, zugleich war es immer still. Aber das können Leute wie Sie nicht verstehen. Sie haben nie gesehen, wie das Gras seinesgleichen retten wollte und sachte vom Wagen zog. Sind Sie Vietnamesin? Oder sind Ihre Augen so schmal, weil Sie verheult sind? Oder saufen Sie etwa?«
    »Bleiben wir bei Ihnen«, sagte die Thewes.
    »Erst kommen die Verknüpfer, dann kommen die Entknüpfer, das geht immer hin und her. Sie gehören zu den Verknüpfern. Kindheit, Krankheit, Ursache, Wirkung, Muster, Zusammenhänge, Strukturen. Darauf wollen Sie hinaus, nicht wahr? Sie wollen meine Seele in Ihre Verknüpfungen zwängen.«
    »Ich versuche nur, mich in Sie einzufühlen«, sagte die Thewes. »Sie können mir gern in Ihren eigenen Zusammenhängen von sich erzählen.«
    Xaver starrte ihr ins Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt war, und obwohl das Lorazepam ihn so träge machte, begann er mit den Füßen auf den Boden zu stampfen.
    »Aber der Sinn kommt erst nach dem Begriff!«, rief er. »Er ist seine Folge, nicht sein Ursprung. Sie und Ihre Kollegen aber glauben an die Heilkraft der Hermeneutik. Sie glauben tatsächlich an Zusammenhänge. Dabei erschaffen Sie sie anhand von Begriffen. Sie erkennen nicht, Sie konstruieren.«
    »Merken Sie denn gar nicht, dass Ihre Intellektualisierung ein Abwehrmechanismus ist?«, fragte die Thewes. »Ich frage nach Ihrer Kindheit, und Sie antworten mit Abstraktionen.«
    »Und nicht allein, dass Sie dauernd einen Sinn ausgraben wollen, der angeblich tief in der Kindheit steckt«, fuhr Xaver fort und wurde noch lauter, »Sie schaffen zugleich ein selbstreferenzielles Rettungssystem der Begriffe. Meinen Einwand nennen Sie Abwehr, und wenn ich sage, dass Sie dogmatisch sind, deuten Sie das als Übertragung. Leute wie Sie sind nicht zugänglich, weder kognitiv noch emotional. Sie halten sich für Aufklärer. Dabei sind Sie Ideologen. Sie sind beschränkter als jeder meiner Katholiken aus Agatharied.«
    »Ich sehe vor allem, dass Sie sehr aufgeregt sind«, sagte die Thewes sanft. »Wir sollten das Gespräch auf später verschieben.«
    »Aber wir haben alles nebenbei gemacht«, schrie Xaver. »Wir waren nebenbei in der Messe, nebenbei in der Beichte, nebenbei! Wir fragten nicht nach dem Sinn. Er lag nicht in Worten und Erklärungen. Auch nicht in Geboten und Gebeten. Er lag im Gras in der Mitte des Weges.«
    »Lassen wir das mal so stehen. Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer.«
    Auf dem Weg durch die Flure trat Xaver gegen die gelb lackierten Türen und schrie. Die Thewes tat ihm leid, weil sie zart und verloren war. Seine Versuche, sie vor der Terrorherrschaft der Begriffe zu retten, liefen ins Leere, und so brüllte er immer lauter und rannte schließlich gegen die Wände, bis irgendwo ein Alarm ertönte und ein Team aus Pflegern herbeieilte, die ihn festhielten, bis er still war. Und so kam es, dass Xaver seine ersten Nächte in der Cardea auf der 5B verbringen musste, auf der geschlossenen Station, im Vierbettzimmer, mit einem trippelnden Polizisten, einem Dicken und einem Mann ohne Strümpfe, der erzählte, dass er Geschäftsmann sei, und sich tagsüber an die Panzerglastür presste, ein lebender Vorhang.
    Kurz vor Weihnachten verlegte man Xaver auf die A, er bekam ein Einzelzimmer mit Blick auf den Innenhof – reizarm, sagten die Ärzte. Wenn er vom Wintergarten aus auf

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