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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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mich danach wieder fesseln! Ich verspreche es!«
    »Das geht jetzt nicht«, sagte die Schwester.
    Annika lag gefesselt, mit heruntergelassener Hose und gespreizten Beinen auf dem Fixierbett und versuchte, den Urin aus ihrer Blase zu drücken, aber ihr Körper hatte sich verschlossen. Sie weinte und presste so sehr, bis sie keine Luft mehr bekam. Endlich kam der Urinstrahl, lief an den Schenkeln und den Hinterbacken hinunter in die Schüssel. Die Schwester nahm die Schüssel weg, trocknete Annika ab und zog ihr die Hose wieder hoch.
    »Warum tun Sie den Menschen so was an?«, fragte Annika. »Wie können Sie so ruhig dasitzen und zusehen, wie wir leiden?«
    »Ich habe keine Lust, das jetzt mit Ihnen zu diskutieren«, sagte die Schwester.
    Hinter dem Paravent begann der Mann wieder zu stöhnen.
    »Wenn doch das Aber aus meiner Existenz verschwinden könnte. Wenn ich doch endlich die reine Existenz besäße. Mein Bein schmerzt so furchtbar, warum können Sie meine Fesseln nicht lockern? Ich bin doch kein Wolf, der sich das Bein in der Falle abbeißen kann. Mein Gott, mein Gott!«
    Als sie den Mann so stöhnen hörte, musste auch Annika wieder weinen und konnte nicht mehr aufhören. Endlich kam der Arzt, Dr. Neef.
    »Bitte machen Sie mich los«, sagte Annika. »Meine Arme tun so weh, ich halte das nicht aus.«
    Neef schob einen Finger unter die Schlaufe am Handgelenk.
    »Die Durchblutung ist gewährleistet«, sagte er, »die Schlaufe ist locker genug.«
    »Aber es tut weh!«, schrie Annika.
    »Ich gebe Ihnen Haldol«, sagte er.
    Er zog Annika ein Band um den Arm und schob ihr vorsichtig die Nadel in die Vene.
    Sie sah an die Decke, sie sah in die Milch der Sterne. Irgendwas Schlimmes war dahinter, aber Annika wusste nicht, was. In der Mitte der Milch verirrte sie sich, im Kabinett zerplatzender Spiegel.
    »Lass mich doch gehen«, sagte Annika.
    »Aber du bist mein Gast«, antwortete die Milch.
    »Bitte lass mich gehen.«
    »Nur, wenn du alles vergisst.«
    »Ich vergesse es, ich verspreche es. Ich vergesse es, ich verspreche es. Ich vergesse es.«
    Der Schleier der Milch, sein gleitender Film, trug Annika fort. Sie hörte sich selbst noch weinen. Sie war traurig, weil die Milch keine Freunde hatte, nicht einmal einen Namen. Die Milch hatte keinen, der sie kannte.
    Als die Schwester die Fesseln wieder löste, war es draußen schon dunkel. Annikas Glieder waren hohl, in ihnen surrte etwas. Sie schüttelte sich. Vor ihren Augen sah sie die wackelnden Umrisse der eigenen Hand, und für einen Moment musste sie an Vosskamp denken, der stets, wenn er etwas betonen wollte, wedelnd die Hand emporhob. Annika versuchte zu sprechen, aber aus ihrem Mund kam nur Speichel und Lallen.
    »Sie dürfen wieder auf Ihr Zimmer«, sagte der Pfleger.
    Sie lallte. »Gegenmittel«, brachte sie heraus.
    »Sie wollen Biperiden gegen die Krämpfe? Da muss ich Dr. Neef fragen, und der ist drüben auf der A. Und jetzt sind Sie ja kein Notfall mehr und müssen warten wie die anderen auch.«
    Sie schwankte über die Station. Sie begegnete dem Mann mit dem Kartoffelgesicht, auch er war inzwischen befreit. Beide versuchten zu lächeln, beide schafften es nicht. Trotzdem spürte Annika eine Verbindung zu diesem Mann, verzweifelte Zärtlichkeit.
    »Aha, Haldol«, sagte Lou, als Annika zurück aufs Zimmer kam und auf ihr Bett fiel. Irgendwo in ihr war Eisen und irgendwo außen ein starker Magnet, aber beides kam nicht zusammen, und darum musste sie zappeln. Sie fühlte den Speichel, der aus ihrem Mund lief, und die Blasen, die er bildete, als sie ausatmete.
    Die wilde Kapusta setzte sich zu ihr. »Nicht weinen, Baby, ich zeige dir Fotos.«
    Sie hielt Annika ein Handy vors Gesicht und startete auf dem Display eine Diashow. In rascher Abfolge sah Annika Landschaften, Autobahnen und Gesichter.
    »Oder lieber Musik?«, fragte die wilde Kapusta.
    Sie setzte Annika Kopfhörer auf und spielte einen arabischen Popsong ab. Den Refrain sang sie mit: »Yalla, Yalla! Yalla, Yalla!«
    Die Töne krochen in Annikas Glieder und streckten das unerträgliche Zucken zu ruhigen, langen Wellen. Die Krämpfe ließen nach.
    »Danke, Frau Kapusta«, sagte Annika.
    »Sagt doch nicht immer alle Frau Kapusta zu mir. Ich bin Jagoda! Und meine Freunde nennen mich Jago.«

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