Teufelsberg: Roman (German Edition)
Kilo ab, und ihr Leben wendet sich zum Guten.« Er wandte sich wieder an Sylvia, die still geworden war: »Oder wolltest du mit dem Affen zu Hause herumhocken?«
»Nein«, flüsterte sie, »ich wollte ihn einfach nur haben.«
»Der Affe als Aseität«, murmelte Xaver. »Als aus sich heraus Seiendes.«
Sylvia begann leise zu weinen.
»Aber Sylvia!«, rief Xaver, »freu dich! Falko hat soeben eine Zeitmaschine erfunden. Wenn wir unsere Ziele verwirklichen, nachdem wir sie aufgegeben haben, können wir rückwirkend in die Zukunft reisen.«
»Aber ich will keinen Affen. Ich weiß ja gar nicht, was ich noch will.«
»Du leidest am Drama der Kontingenz«, sagte Xaver. »Dein Dasein, Sylvia, könnte so sein oder anders oder gar nicht. Der Affe würde dich von dieser Widerfahrnis befreien. Er wäre dein Fixpunkt, unabhängig von Sinn und Wille, verstehst du?«
»Ich bin zwar kein Philosoph wie Xaver«, ergänzte Falko, »aber ich weiß, dass der Affe dich glücklich machen würde.«
»Und du könntest mit dem Schiff nach Indien fahren«, fügte Friedrich hinzu, und alle sahen ihn an. Er trug, wie so oft, sein Leinennachthemd, und die Augen unter den weißen Brauen blitzten.
Xaver schaute noch einmal in die Runde. Er liebte diese Menschen. An ihnen war etwas, das er mit seinen fünfundvierzig Jahren nirgendwo sonst erlebt hatte, weder bei den wortkargen Bauern im Dorf seiner Kindheit noch in den weiten Naturen der Welt.
Professor Dr. phil. et rer. nat. Xaver Walpersdorf war der ledige Sohn von Kreszentia Walpersdorf, einer Bauerntochter aus Agatharied, die bald nach Xavers Geburt die Frau vom Schwaighofer-Maxl wurde. Mit dem Brauch des Fensterlns hatte Kreszentia ihre Fruchtbarkeit bewiesen und dass sie dem Schwaighofer Erben schenken würde.
Xaver wuchs auf dem Hof mit auf. Er hatte ein Zimmer und eine Katze, einen Baukasten von Fischertechnik und ein Regal für seine Steine. Bis er zehn war, sah er keinen größeren Ort als Hausham, wo er zur Volksschule ging. Er stellte sich vor, dass die Hochhäuser in den Städten Schächte seien, die man aus den Bergen geschält und mit einem Stück Steinummantelung aufgestellt hatte, und dass man mit klapprigen Metallkörben durch die Stockwerke fuhr und ständig umsteigen musste, dass es dunkel in diesen Häusern war und alle Leute eine Lampe an der Stirn trugen, so wie sein leiblicher Vater damals, als er Xaver die Hausham-Grube zeigte.
Der Förderturm war mit Bleistift in die Landschaft gekritzelt, der Zeichner hatte fest aufgedrückt, der Turm war zu scharf umrandet, grau, massiv und weithin sichtbar, in seinen Öffnungen drehten sich die filigranen Räder und zogen die Kohle nach oben. Die hölzernen Lagerhallen und die Bahnschienen hinter dem Werk lagen still in der Sonne. Der Klatschmohn brannte in den Wiesen, der Himmel war blau, der Wald im Schatten der Berge petrol. Als der Vater mit Xaver in den Schacht fuhr, versanken sie in den Eingeweiden der Farben. Die Steine und die Bergleute waren grau, auch der Vater. Von hinten blickte Xaver auf seinen langen Nacken. Der Vater musste ihn beugen, weil die Stollen so niedrig waren. Xaver sah die Wirbel, die sich unter der Haut abzeichneten, und er erkannte im Nacken des Vaters etwas Verletzliches, Scheues, die Luft an den Rundungen der Wirbel war dünn. Ab und zu zeigte der Vater im fahlen Licht der Grubenlampen auf eine Maschine – ein Rammgerät, ein Reißhaken-Hobel. Aber Xaver guckte die ganze Zeit nur auf den Nacken. Die schwarzen, schweißnassen Haare, die sich um die Wirbel schmiegten, erinnerten an die Risse von Eierschalen. Xaver stellte sich vor, dass in den Wirbeln des Vaters kleine Echsen träumten, die sich lautlos bewegten, und dass dies das Geheimnis war, das der Vater ihm offenbarte, indem er ihn mit in die Grube nahm.
Zum Schluss, als sie wieder oben waren und das Licht in ihre Augen schoss, nahm der Vater ein Stück Pechkohle aus dem Hunt und schenkte es Xaver. Xaver legte das Kohlestück zu seiner Sammlung. Es glänzte glasig, und wenn er es rieb, zog es die kleinen Papierfetzen an, die er zu diesem Zweck auf seinen Kinderzimmertisch gestreut hatte.
Erst Jahre später, als erwachsener Mann, fand Xaver heraus, dass die Hausham-Grube schon 1966 geschlossen worden war, im Jahr seiner Geburt. Also war er niemals dort gewesen, und er war seinem leiblichen Vater nie begegnet. Er nannte dieses Phänomen das Pechkohlengeheimnis, er hatte die Wahrheit gesehen, im Nacken des Vaters, während die Wirklichkeit
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