Teufelsberg: Roman (German Edition)
verstummt war.
Die Bauern in Agatharied waren wortkarg, sie schnitten die Brotscheiben in Körperrichtung vom Laib ab und aßen die Apfelscheiben vom Messer. Ihre Augen waren dunkel, die Handgriffe sparsam, und nicht nur die einzelnen Pflichten, sondern das Leben selbst war ihnen etwas, das sie erledigten, ohne nach einem Sinn zu fragen; der Sinn war identisch mit der Tat. Xaver kannte dieses Verhalten nur von den einfachen Leuten, von denen er später nicht mehr viele traf. Er selbst beherrschte dieses Verhalten nicht. Für ihn waren Sinn und Tat getrennt. Darum dachte er immerzu nach, und wenn er nichts dachte, tat er auch nichts.
Er hatte sehr lange nichts getan, nicht einmal ferngesehen, er hatte irgendwo rumgelegen, meistens in seiner Berliner Wohnung, manchmal bei irgendeiner Frau. Er war nicht mehr froh, aber auch nicht traurig; sein Herz war ein erodierter Berg. Irgendwann wusch sich Xaver nicht mehr, er ging nicht mehr zur Arbeit und nicht mehr raus. Bald lag die Post in großen Haufen vor der Tür, morgens fielen senfgelbe Briefe vom Amtsgericht durch den Briefschlitz, Einladungen zu Tagungen und Expeditionen, vielleicht eine Abmahnung von der Uni, vielleicht eine Preisverleihung, es war Xaver egal, die Lade klapperte immer weiter. Er brachte den Müll nicht mehr raus, der Fäulnisgeruch hing überall. Xaver magerte ab.
Sein Apartment lag am Potsdamer Platz, ein Makler hatte es ihm besorgt, es hatte sandfarbene Wände und ein Wohnzimmer mit Küchenblock. Von seinem Schlafzimmer aus konnte Xaver hinüber nach Kreuzberg sehen. Über die Köthener Straße hinweg blickte er in eine Wohnung voller Plastiktüten, in denen eine Türkin Tag für Tag herumkramte. Manchmal sah sie zu ihm her.
Draußen bewegten sich lautlos die Äste der Bäume. Sie erinnerten ihn an die Kindheit. Er hatte nie gewusst, was er nach der Kindheit machen sollte. Er hatte sich immer vorgestellt, dass den Menschen, wenn sie erwachsen wurden, ein Code zugewiesen wurde, mit dem sich die Welt neu entschlüsseln ließ. Jetzt war er schon lange erwachsen, und er wartete immer noch auf den Code.
Er war Professor für Petrologie am Institut für exogene Geologie an der Humboldt-Universität Berlin. Er hielt seine Vorlesungen, schrieb seine Arbeiten, bekam Preise, aber er verstand diese Welt nicht. Er wusste nicht, was im Akademischen Senat besprochen wurde, nicht einmal, wer dort Mitglied war, wozu der Fachschaftsrat gut sein sollte und in welcher Partei der Präsident war. Seine Kollegen präsentierten sich auf ihren Homepages in Wanderschuhen und braungebrannt, sie erzählten den Studenten Geschichten von Bergen, Steinen und Vulkanen, während Xaver das schroffe Schweigen der Landschaften wahrnahm. Und weil er selbst so schweigsam war, düster, groß und bewegungssicher, ließen ihn seine Kollegen in Ruhe, und als er sich zurückzog, glaubten sie, er würde schreiben. Aber er lag nur im Bett und sah der Türkin zwischen den Tüten zu, und irgendwann hob er nicht mehr den Kopf, sondern starrte nur noch auf den Staub, der den Nachttisch bedeckte. Er konnte die Hand nicht heben, um ihn wegzuwischen. Es hat keinen Sinn, es zu tun, dachte er. Und es hat keinen Sinn, es nicht zu tun.
Der Staub hatte eine Landschaft gebildet, mit Senken und Bergen, auch Flusstäler waren erkennbar, in denen das Licht versickerte. Xaver durchwanderte den Staub mit Blicken. Ihm fiel auf, dass der Staub aus Schichten bestand, wie der Flysch, den er als Kind in den Alpen gesehen hatte und Jahre später in Südchina, in der Doushantuo Formation. Er spürte ein elektrisches Zucken hinter den Augen.
Wenn der Sinn nicht an die Tat gebunden ist, dachte er, dann ist er überall. Dann ist alles umgeben, durchdrungen von Sinn, und damit auch jede Tat. Langsam wischte er über den Nachttisch und betrachtete den Staub, der sich in seiner großen, rauen Handfläche zum Gratgebirge aufgefaltet hatte. Dann stand er auf.
Seit diesem Tag zeigte sich der Sinn in allem, was Xaver sah und dachte, seine Gedanken wollten nachholen, was sie in der langen Zeit verpasst hatten. Er lief durch die Uni, ungewaschen und mit wirrem Haar, redete überall und mit jedem. Aber auf einmal wollten alle, dass er schwieg, erst die Kollegen, dann der Arzt, der ihn einwies, dann der Richter, der die psychiatrische Unterbringung in der Cardea anordnete, weil Xaver sofort nach Hause wollte.
Schon beim Aufnahmegespräch, kurz vor Weihnachten, gab es die ersten Missverständnisse. Xaver erzählte der
Weitere Kostenlose Bücher