Teufelsberg: Roman (German Edition)
philosophischen Text. Versprochen?«
»Versprochen.«
Als Xaver zurück in sein Einzelzimmer kam, stand das Mittagessen unter einem Isolierdeckel schon auf dem Tisch, und im Fernsehsessel saß Friedrich und tippte auf dem Telefon herum.
»Was machst du denn hier?«, fragte Xaver. »Hast du dich wieder verlaufen?«
Friedrich blickte ihn an, die Spitzen seines weißen Schnurrbartes klebten in den Mundwinkeln fest, und er sah traurig aus.
»Ich möchte mit meiner Frau sprechen. Wo ist Ursula denn nur?«
»Weißt du was«, sagte Xaver, »bleib einfach hier sitzen und telefoniere, so lange du willst.«
»Sind wir noch auf dem Schiff?«
»Wer weiß das schon«, sagte Xaver.
Er nahm sein Tablett und trug es in den Wintergarten. Dort traf er auf Falko, der mit einem Sudokuheft im Sessel zwischen den Palmen saß.
»Mahlzeit«, sagte Falko.
Xaver nickte ihm zu. Er hob den Deckel vom Teller und erkannte drei dünne Scheiben Schweinebraten, die in einer dunklen Soße schwammen, umgeben von zwei Semmelknödeln und schlaffen Salatblättern. Er deckte den Teller wieder ab und schob das Tablett weg.
»Eklig, was?«, sagte Falko. »Ich hatte die Kartoffelsuppe. Sie war staubig. Staubig!«
Xaver erinnerte sich an seinen Aufenthalt in Haar. Er musste damals Olanzapin nehmen, was ihm das Aussehen eines gemästeten Adlers verlieh. Nach kurzer Zeit quetschten die prallen Wangen seine Hakennase ein, die Längskerben in seinem Gesicht verwandelten sich erst in flache Rinnen und verschwanden schließlich ganz. Zuerst hatte er nicht verstanden, warum sich so viele Patienten nach dem Frühstück Berge geschmierter Brote mit auf die Zimmer nahmen, dann tat er es selbst. Er fraß und fraß und ließ sich mittags zweimal Nachschlag geben, egal was es gab. Er fraß die Mehlschwitzenlasagne, die Putenschnitzel in Maggisoße, die glibschigen Eiernudeln, ihm schmeckte nichts, und er wurde nicht satt, nachts ging er mehrmals in den Speisesaal und schmierte sich Brote mit Margarine. Er nahm dreißig Kilogramm zu; es gab Patienten, die das Doppelte zugenommen hatten und mehr. Aus hübschen Frauen mit Psychosen wurden fette Weiber ohne Psychosen, die den Gang entlangwatschelten, und man konnte das Reiben ihrer Schenkel in den Jogginghosen hören. Die Frauen wurden in wenigen Wochen alt, und keiner sah sie mehr an. Wenn das Essen gebracht wurde, stellten sie sich an der Ausgabe an und starrten mit leeren Augen auf die Schiebetür.
Ich muss beides machen, dachte Xaver, die Expertise und den Aufsatz über die Seele. Die Expertise ist wichtiger, aber Vosskamp muss Samstag den Aufsatz haben, sonst kriege ich wieder Olanzapin.
»Hattest du deine Stunde bei Vosskamp?«, fragte Falko. »Verzeihung, bei Professor Doktor Bernd Vosskamp?«
»Professor Doktor Bernd Vollidiot«, murmelte Xaver. »Dieser Schwafler hat gar nichts kapiert.«
Falko grinste. »Mit dir ist es lustig. Den Rest der Leute hier kannste vergessen. Zu schade, dass Annika weg ist. Die hat so einen süßen kleinen Arsch.«
»Annika hat keinen Arsch«, sagte Xaver.
»Die dürre Beate hat keinen Arsch. Annika hat einen kleinen Arsch.«
»Ein kleiner Arsch ist kein Arsch«, sagte Xaver.
»Falsch. Ein kleiner Arsch ist ein Arsch, aber ein großer Arsch ist ein Hintern. Beate hat keinen Arsch, und die dicke Sylvia hat einen Hintern.«
»Nein«, sagte Xaver, »Sylvia hat einen herrlichen Arsch.«
»Sylvia hat ein Hinterteil. Ein richtiger Arsch muss straff sein. Da muss man ein Whiskyglas draufstellen können. Wie bei Annika.«
»Dein Arschparadigma, lieber Falko, ist beschränkt. Es zielt allein auf die Form.«
»Auf was denn sonst?«, fragte Falko.
»Es muss auf die Aura zielen. Sylvias Arsch hat Aura. Er ist einmalig, und er ist echt. Seine Dickheit hat so was Verschämtes, so was arglos Anmutiges. Hast du mal gesehen, wie Sylvia versucht, ihren Pullover über den Arsch zu ziehen, wenn sie aufsteht? Sie macht ihn damit unnahbar, sie macht ihn zur einmaligen Erscheinung in der Ferne. Und nur die ganz großen Ärsche sind unnahbar. Sylvias Arsch strahlt eine traumhafte Transzendenz aus. Überlege doch mal, im Zeitalter der Reproduzierbarkeit von Knackärschigkeit durch Fitnessgeräte werden die Ärsche mit Aura immer seltener. Umso mehr müssen wir sie schätzen.«
»Aura ist also Fett?«, fragte Falko.
»Nein, aber Fett kann Aura haben. Außer bei Beuys.«
Falko lehnte sich zurück und lachte. »Dir fällt immer was ein! Aber ich komme um vor Langeweile. Was soll ich bloß
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