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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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den ganzen Tag machen? Rausgehen darf ich nicht, Fernsehen kann ich nicht, weil Kapitän Friedrich mich nervt, und die Therapien sind bescheuert.«
    Xaver sah aus dem Fenster. Der Garten war von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, in der die Gartenbaufahrzeuge braune Reifenspuren hinterlassen hatten. Xaver hatte scharfe Augen, er konnte erkennen, dass die Erde schon weich geworden, schon angetaut war.
    »Sag mal, bist du gut im Recherchieren?«, fragte er Falko.
    »Glaub schon.«
    »Dann habe ich was für dich, gegen die Langeweile. Ich muss einen Aufsatz für Professor Doktor Bernd Vollidiot schreiben, Schreibtherapie, und habe weder Zeit noch Lust. Willst du das übernehmen?«
    »Ehrlich gesagt, bin ich im Abschreiben besser als im Schreiben«, sagte Falko.
    »Auch gut. Es soll um Metaphern gehen, Seelenmetaphern. Schreib irgendwas Intelligentes. Wissenschaftlich, aber originell. Gefällig, aber bahnbrechend.«
    »Bis wann denn?«, fragte Falko.
    »Fünfzehn Seiten bis Samstag. Schaffst du das?«
    »Ja, locker.«
    Xaver stand auf und eilte in Richtung Fahrstuhl. Er spürte, wie die Wirkung des Lorazepams nachließ. Er rannte über den glänzend gelben Boden, aber er kam nicht voran; er fühlte sich wie ein Insekt, das in einer Seifenblase gefangen ist und die schillernde Wand nicht durchdringen kann.
    Er machte einen Schritt, und plötzlich dachte er nicht mehr an den Teufelsberg und die Expertise, sondern an die Broschüre der Cardea, die er irgendwann mal gelesen hatte. In der Broschüre wurden zwischen Hochglanzfotos von hellen Zimmern und Landschaftsaufnahmen »Vision und Mission« der Klinik beschrieben. »In der modernen Hochleistungsgesellschaft werden der Tod und das Sterben verdrängt«, hieß es. »Der Fokus liegt auf Jugendlichkeit und Erfolg. Unser Anliegen aber ist es, auch einmal innezuhalten und den Tod nicht als Tabu zu begreifen, sondern als etwas, wodurch das Leben kostbar und einmalig wird.« Was für ein Missverständnis, dachte Xaver, der Tod wurde in der modernen Gesellschaft nicht verdrängt. Er war überall, nicht als Endgültigkeit, sondern als Spiel. Alles in der Moderne war vorübergehend und damit mortal. Werte, Strukturen, Begriffe – sie sprangen nebeneinander her und verschwanden wieder in den Abwassern des Zeitgeistes, und sofort sprangen neue Begriffe empor, flogen für eine Weile durch die Luft, klatschten auf und versanken. Die Moderne war der multiple Tod, und zugleich war der Tod nur noch einer ihrer verspielten Begriffe.
    Xaver wollte umdrehen, in den Wintergarten rennen und Falko von seinen Gedanken erzählen, und gleichzeitig wollte er zur Pressestelle der Cardea laufen und verlangen, dass man die Broschüre umschrieb, und gleichzeitig wollte er die Expertise schreiben. Die Moderne saugt alles auf, dachte er. Sie nimmt uns jede Distanz, die nötig ist, um die Wahrheit zu erkennen. Sie nimmt uns das große Fremde, den Tod, und damit bringt sie uns um. Der Tod wäre unsere letzte Rettung. Ohne ihn sind wir sprachlos.
    Er blieb stehen und lehnte sich an die Wand, neben ein Fahrradergometer, das nie jemand nutzte. Vom Lenkrad baumelte ein Kabel mit einer Klemme, mit der man den Puls im Ohrläppchen messen konnte. Xaver nahm die Klemme in die Hand und fummelte damit herum, bis sie aufbrach.
    Wenn der Tod unsere letzte Rettung ist, dachte er, dann darf ich uns gar nicht retten, dann sollten wir besser sterben. Oder ist es gerade umgekehrt?
    Durch das Dach aus Glasolexkuppeln sah Xaver die hellgraue Wolkenschicht, die der Wind marmorierte, und als er den Blick wieder senkte, sah er den weißen, glatten Beton der Wände und die lanzenförmigen Lampen, deren Licht sich im gelben Boden spiegelte. Er dachte, dass dieser Boden in Wahrheit die Zimmerdecke des vierten Stockwerkes war und der Boden des vierten Stockwerkes die Zimmerdecke des dritten und so weiter, und nirgendwo gab es einen Grund, auch nicht im Berg, nicht in der kontinentalen Kruste darunter und erst recht nicht im Kern des Planeten, auf den wieder Magma und Kruste und Erde und Himmel folgten und schließlich das kalte Weltall, mit dem nichts anzufangen war.
    Xaver stützte sich auf das Fahrradergometer, sein Gesicht war nass von Schweiß. Er wünschte sich einen wahren Gedanken, aber zu jedem Gedanken fand er sofort einen Gegenbeweis und den Gegenbeweis des Gegenbeweises. Er rieb sich den Hals, er spürte das Vibrieren der Kehle unter seinen Fingern, daran merkte er, dass er stöhnte.
    Plötzlich stand Sylvia vor ihm.

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