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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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Sie sah ihn mit bernsteinbraunen Augen an. »Xaver, was hast du denn?«
    »O Gott, Sylvia«, stammelte er, »es gibt nichts mehr.«
    »Willst du dich setzen? Ich hole dir einen Stuhl.«
    »Es gibt nichts, Sylvia, es gibt nichts mehr.«
    Sylvia legte die Hand auf seinen Unterarm, ihre Hand war schmal und leicht. »Mich gibt es auch nicht?«, fragte sie.
    »Du hast Aura, du bist wunderbar. Aber gleichzeitig gibt es dich nicht. Ich halte das nicht aus.«
    Sylvia musterte ihn eine Weile. »Was hattest du eigentlich vor?«, fragte sie.
    »Ich wollte eine Expertise schreiben.«
    »Dann tu das.«
    »Aber ich will nicht mehr.«
    »Egal«, sagte Sylvia. »Die Expertise ist dein Affe.«
    Er blickte in ihr Gesicht, das von rotbraunen Locken umrandet war wie eine Küste vom Meer. Die Prellungen waren grünlich-schwarz und sahen aus wie die Wolkenlöcher, durch die man im Flugzeug auf die Erde schaut, auf den Wald. Xaver begann, ihre Hand zu streicheln, die noch auf seinem Unterarm lag. Er wünschte, sie würden für immer so bleiben, nah beieinander, und er könnte für immer durch die Wolkenlöcher schauen, auf die schwarzgrünen Wälder ihrer Tapferkeit. Er wurde ruhiger.
    »Soll ich den Pfleger rufen?«, fragte sie.
    »Bloß nicht«, sagte Xaver, aber Pfleger Carsten war schon da.
    »Brauchen Sie Hilfe?« Er ruckte mit dem Hals.
    Sylvia lächelte fein: »Nein, Herr Walpersdorf braucht nur einen Affen.«
    »Die Expertise ist mein Affe«, erklärte Xaver.
    »Ich gebe Ihnen wohl besser Bedarf«, sagte Pfleger Carsten. »Soll ich das Lorazepam bringen, oder schaffen Sie es, mit mir zum Dienstzimmer zu kommen?«
    »Die Expertise ist meine Antwort auf das Grauen der Moderne«, sagte Xaver.
    »Ein Milligramm? Oder besser fünf?«
    »Nicht nötig.« Xaver marschierte los, in den Aufenthaltsraum zu den Fahrstühlen.
    Pfleger Carsten folgte ihm: »Sie haben Stationsgebot. Der Professor macht sich Sorgen um Sie.«
    »Unsinn, ich will doch nur forschen.«
    »Darüber können Sie ja mit der Oberärztin reden. Jetzt bleiben Sie erst mal hier.«
    Sie erreichten den Aufenthaltsraum. Dort saß eine alte Frau mit vertrockneten Haaren und abgeknickten Händen. Im Schoß hielt sie eine saitenlose Gitarre, auf deren Klangkörper etwas klebte, das aussah wie getrocknete Buttercreme, und brummte in einem Singsang vor sich hin: »How do you think it feels, when you’ve been up for five days?«
    Pfleger Carsten hielt Xaver am Arm fest.
    »Lassen Sie mich gehen«, sagte Xaver, »ich muss sofort zum meteorologischen Institut.«
    »Beruhigen Sie sich, Herr Walpersdorf«, sagte Pfleger Carsten. »Ich werde Dr. Thewes anpiepen, dann können Sie mit ihr reden.«
    »Ich will nicht reden, ich will schreiben.«
    Die alte Frau wurde lauter: »How do you think it feels, and when do you think it stops? When do you think it stops?«
    Xaver wusste, dass die Frau das K. S. praktizierte, das Klapsmühlenschweigen, und nur deshalb sang, damit er nicht merkte, wie er sich lächerlich machte. Manchmal, dachte er, spielen die Verrückten verrückt, um die anderen von sich selbst abzulenken.
    Er drehte sich zu ihr um. »Sie sind verwirrt und können nicht singen und haben nur die kaputte Gitarre, und hässlich sind Sie außerdem. Aber Sie sind eine große Dame. Mehr noch, Sie sind die weibliche Version eines Gentlemans.«
    Er wandte sich wieder an Pfleger Carsten: »Lassen Sie mich endlich gehen?«
    Der Pfleger sah Xaver an, ruckte mit dem Hals und sagte nichts.
    Maßregelungsschweigen, dachte Xaver. Es hat keinen Zweck. »Na gut«, seufzte er. »Ich gehe zurück auf mein Zimmer.«
    »Schön, dass Sie so einsichtig sind. Soll ich Ihnen Bedarf geben?«
    »Nein.«
    Xaver hastete zurück, und in seinem Zimmer kippte er seine Tasche aus und wühlte in den Sachen herum, bis er das Adressbuch fand. Friedrich saß noch immer im Sessel und hielt den Telefonhörer in der Hand. Er hatte den Kopf gesenkt, sein weißer Schnurrbart war verschmiert und stand an einer Stelle struppig in die Höhe.
    »Sie hat mir nichts gesagt«, flüsterte Friedrich.
    »Was? Wer?«, fragte Xaver.
    »Meine Tochter.«
    Die Lippen des alten Mannes zitterten.
    »Ich brauche das Telefon«, sagte Xaver.
    »Und meine Frau?«
    »Später. Darf ich?«
    Er griff nach dem Telefon, Friedrich hielt den Hörer fest, und als ihm Xaver den Hörer aus den Händen riss, gab Friedrich einen kurzen, schrillen Laut von sich.
    Xaver drehte sich weg, blätterte im Adressbuch, fand die Nummer seines Kollegen Professor Lutz

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