Teufelsberg: Roman (German Edition)
geschlossen hatte.
Das Einzige, was ihn unruhig machte, war die Lücke in der chaotischen Parade aus Fratzen und Fragen, die ständig vor ihm auf- und abzog, die Ursula-Lücke, die sich nicht wieder füllte, egal was er tat.
Eines Tages spürte er in der Glätte, die ihn umgab, einen Riss. Zuerst war der Riss nur ein zarter, grauer Strich, hingezeichnet wie mit feinem Bleistift. Mit der Zeit wurde der Riss immer dunkler und breiter, verzweigte sich in weitere zarte, graue Striche, die ihrerseits dunkler und breiter wurden, und am Ende war aus der weißen Glätte ein bedeutsam zersprengtes Gebilde geworden, denn die Risse waren Worte, und mit ihnen erkannte Friedrich, wo er war.
Er sah einen Krankenhausflur mit einem glänzenden, gelben Fußboden. Eine Putzfrau schob eine Art Servierwagen voller Putzmittel vor sich her und feudelte den Boden, das Putzmittel roch nach Essig. An der Wand hing ein großes Bild mit irgendwelchen abstrakten, bunten Strichen. Schwestern und Pfleger eilten vorbei, bis einer, der blond und rotgesichtig war, Friedrich an die Hand nahm und durch ein Treppenhaus in eine gläserne Turmkuppel führte. Von dort aus sah er den Grunewald und Berlin. Es war Winter, der Nebel bleichte die Bäume, auf ihren Kronen lag dünner Schnee.
Ich bin auf dem Teufelsberg, dachte Friedrich, im Turm der Spionagestation. Nein, die gibt es ja gar nicht mehr.
»Welchen Tag haben wir heute?«, fragte er den Pfleger.
»Heute ist Dienstag, der achtzehnte Januar. Wissen Sie, wo Sie sind, Herr Bialla?«
Dienstag, der achtzehnte Januar, dachte Friedrich. Meine Güte, New York ist drei Monate her. Wie bin ich bloß hierhergekommen?
Friedrich verstand sein Handwerk. In unzähligen kriminalistischen Ermittlungen hatte seine Arbeit darin bestanden, kleine Informationen zu einem großen Bild zu fügen. Während er mit den Leuten, die er als Geister in Erinnerung hatte, in der Turmkuppel auf irgendwas wartete, begann er, logisch zu kombinieren.
Mir fehlen drei Monate, dachte er. Das Letzte, an das ich mich klar erinnern kann, ist die Hafenrundfahrt in New York. Jetzt bin ich hier, krank. Aber welche Krankheit habe ich? Die Leute ringsum sind Patienten. Aber sie tragen keine Nachthemden. Also sind sie irre. Folglich bin ich in New York verrückt geworden. Aber von welcher Art ist meine Verrücktheit? Der Pfleger fragt mich, ob ich weiß, wo ich bin. So was fragt man demente Menschen. So, ich bin also dement. Aber warum kann ich wieder denken? Bin ich gesund geworden? Das muss ich den Ärzten sagen.
Er wollte gerade seine Heilung bekannt geben und darum bitten, den Doktor zu rufen, als er seinen Zimmergenossen erkannte. Der Mann trug eine grüne Schirmmütze und salutierte ihm: »Ahoi, Kapitän!«
Friedrich sah die Knastblässe und das vom vielen Wünschen zerdellte Gesicht, und zugleich empfand er die vertraute Sympathie im Umgang mit Betrügern.
So verwirrt war ich gar nicht, dachte er. Der Mann ist tatsächlich ein Betrüger. Aber was will der hier?
Spontan beschloss Friedrich, sich nicht zu offenbaren, bis er den Betrüger gestellt hatte. Er würde die Demenz als Tarnung benutzen und eine verdeckte Ermittlung durchführen, die »Operation Teufelsberg«.
»Sind wir noch auf dem Schiff?«, fragte er.
»Nein, Herr Bialla, wir sind in der Tanztherapie«, entgegnete eine kleine drahtige Frau, »und ich bin Ihre Tanztherapeutin. Bitte nehmen Sie sich eins der kleinen gefüllten Kissen hier. Wir wollen heute Fühlen üben. Viele von Ihnen leiden ja unter Muskelstarre, wegen der Neuroleptika. Da wollen wir mal was gegen unternehmen.«
Das Gesicht der Tanztherapeutin war zerknautscht, sie hopste herum und machte Geräusche und Grimassen, sie wirkte engagiert und unglücklich. Friedrich dachte an den Bären, er sah, dass auch diese Frau an der Kette geführt wurde, an einer Kette aus verzweifelten Menschen.
Es folgten einige Übungen, die Patienten mussten die Kissen in die Luft werfen, »Tschaka Alpaka« rufen und sich die Hände reichen. Friedrich versuchte, sich die Namen seiner Mitpatienten zu merken. Alle duzten sich, das war hier wohl so üblich. Die Frau mit den rotbraunen Locken hieß Sylvia, ein Gewaltopfer offenbar, ihr Gesicht war voller Schwellungen und Blutergüsse. Annika, das Mädchen mit den Wunden auf den Armen, hielt den Betrüger an den Händen. Er hieß Falko. Eine dürre, blondierte Frau in den Fünfzigern, Beate, sah ständig zu Falko rüber. Er gab vor, sie nicht zu beachten. Wenn sie nicht hinsah,
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