Teufelsberg: Roman (German Edition)
dachte er.
In der Ferne schwammen die Lichter der Stadt, die Wolken griffen nach dem Mond.
Nachts konnte Friedrich nicht schlafen. Er schaute durch die gläserne Zimmerdecke auf den Baukran, der grell beleuchtet war und seinen Arm wie ein Fadenspiel über den Nachthimmel streckte. Wie das Abnehmspiel, das die Mädchen gespielt hatten, damals am Rosenthaler Platz, als er ein Kind war. Die Kordel hatte immer neue Muster gebildet, während sie zwischen den Händen der Mädchen hin- und hergeflogen war. Friedrich sah die Szene vor sich, schärfer als die Gegenwart, er sah Kordelstücke, die sich überkreuzten, er sah die kleinen Hände der Mädchen und wie die Finger in die Kreuze griffen, mit kurzen, rosigen Fingernägeln. Er konnte sogar die gestärkten Kleiderkragen riechen, und alles war so, wie er es zurückgelassen hatte, jedes Haar und jedes umhersirrende Lindenblütenblatt. Damals hatte er Mädchen albern gefunden, und auch heute kam ihm die Erinnerung belanglos vor. Trotzdem hatte sie zu leuchten begonnen.
»Operation Teufelsberg!«, sagte Friedrich, sobald er wach geworden war, und folgte Falko auf Schritt und Tritt. Beim Frühstück lernte er auch die anderen kennen, die nicht mit bei der Tanztherapie waren, die alte Lotti und Xaver, den Mann mit dem Alexanderplatzgesicht. Xaver trommelte die ganze Zeit an die Scheibe und rief in den Raum: »Euer K. S. ist lieb, aber unangebracht! Ich bin nicht verrückt, ich werde euch retten!«
An dem großen, sehnigen Mann war nichts arrangiert, er war jemand, der nur beim Rasieren in den Spiegel blickte. Friedrich mochte ihn, aber am liebsten hatte er Lotti. Sie senkte beim Sprechen die Augenlider, manchmal wurde sie rot. Die meisten Menschen waren, wenn sie bescheiden wirkten, in Wahrheit nur gut darin, ihre Anmaßung zu bezähmen. Lotti musste nichts bezähmen, das machte sie schutzlos.
Auf einmal musste Friedrich an Ursula denken, an ihr Gesicht, das in New York davongeschwebt war. Dass sie ihn immer noch nicht besucht hatte, beunruhigte ihn. Er nahm sich vor, den Arzt nach ihr zu fragen.
Zur Visite kam der Arzt nicht allein, er hatte seine Kollegen mitgebracht.
»Guten Tag!«, rief er und gab Friedrich die Hand, eine breite Hand mit kräftigen Fingern. »Ich bin der Chefarzt der Psychiatrie, Professor Vosskamp! Ich bin Ihr behandelnder Arzt! Sie sind hier in einer Klinik!«
»Wo ist meine Frau?«, fragte Friedrich.
Vosskamp setzte sich zu ihm an den Tisch und spielte mit seinem Schlüsselbund. Der Schlüsselbund hatte einen Anhänger, eine Plastikmarke mit einem goldenen Emblem darauf, ein Schlüsselloch, umrahmt von einem Kranz.
»Wissen Sie, welchen Tag wir heute haben?«, fragte Vosskamp.
»Mein Zimmernachbar ist ein Betrüger.«
»Aha.«
»Sie müssen ihn stoppen.«
Vosskamp wandte sich an einen jungen, weichgesichtigen Kollegen. »Konfabulation«, murmelte er. »Das ist neu. Notieren Sie das.«
Für einen kurzen Moment blickten alle auf den jungen Arzt. Der Schlüsselbund lag auf dem Tisch, und mit einer raschen Bewegung nahm Friedrich ihn an sich.
»Wir sehen uns Freitag in der Einzelstunde«, sagte Vosskamp. »Dann habe ich mehr Zeit für Sie, und dann reden wir über Ihre Frau, ja? Wir wollen das nicht so zwischen Tür und Angel machen.«
Friedrich nickte, Vosskamp gab ihm die Hand. Der Tross zog ab.
Friedrich trug noch immer sein Leinennachthemd. Er durchsuchte den Schrank, aber er konnte keine frische Wäsche finden, nur einen Wäschebeutel voll schmutziger Socken und Unterhosen. Darum zog er an, was er gestern Abend über den Stuhl gelegt hatte, seine braune Gabardinehose, Hemd und Pullover. Das Hemd hatte einen gelben Rand am Kragen.
Was ist denn nur mit Ursula los, dachte er, warum wäscht sie meine Sachen nicht?
Als er auf den Gang trat, verschwand der Tross gerade in einem anderen Raum. Friedrich lief den Flur entlang zum Dienstzimmer, schloss es auf, sah sich kurz darin um und durchsuchte den Hängeregisterschrank. Er fand Falkos Akte, auch seine eigene, stopfte beide unter den Pullover und legte Vosskamps Schlüsselbund auf den Tisch. Rasch verließ er das Dienstzimmer und eilte über den Flur zurück in sein Zimmer.
Er versuchte, Falkos Akte im Badezimmer zu lesen, aber er hatte keine Brille dabei und konnte die Worte nur mit zusammengekniffenen Augen erkennen.
Diagnose: Z73.0, F32.2, entzifferte er. Es folgten Angaben über die körperliche Untersuchung, EKG, Blutdruck und Blutbild sowie die Tagesprotokolle des Pflegepersonals
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