Teufelsberg: Roman (German Edition)
der Vernehmung sagte der Kipper: »Ich wollte ein besseres Leben.«
Friedrich sah auf die blutverkrusteten Schrammen im Gesicht des Kippers, die der Drahtbesen hinterlassen hatte. Es erstaunte ihn, dass sich kein Ausdruck von Schmerz dazugesellte – wie vor Jahren bei dem misshandelten Zirkusbären. Einmal, als es Berlin noch gab, hatte Friedrich den Bären an der Kette eines Gauklers gesehen. Das war am Rosenthaler Platz, in der Mitte stand ein Laternenmast, aus dem wie Zweige die Lampenhalter wuchsen, kunstvoll geschmiedet. In der Sonne warfen sie ziselierte Schatten. Die Straßenbahn bimmelte, über das Kopfsteinpflaster rumpelten die Fuhrwagen, hin und wieder ein Ford mit gelben Felgen oder ein schwarzer Maybach. Sobald sie vorbeigefahren waren, legte die große Laterne ihre Schatten sorgsam zurück aufs Pflaster. Die Luft roch nach Berlin. Es war ein Geruch, den es heute nicht mehr gab, leicht sandig und nach Blättern, Pferden, Teer und verbranntem Öl. Aus einem Leierkasten kam Musik, vor dem Tabakwarenladen Carl Martienzen musste der Bär sich aufrichten und tanzen, und es war nicht der Anblick der blutigen Schnauze, der Friedrich das Herz brach, sondern der Ausdruck von Gleichmut in den Augen des Bären.
Alles war fort, die Laterne, die Häuser, das Leitungsnetz der Straßenbahn. Statt der Straßenbahnglocken hörte man das Rollen und Knirschen der Trümmersteine unter den Schuhen oder den nackten Füßen der Leute. Während Friedrich in seinem Verhör dem Kipper ins Gesicht sah, fragte er sich, was aus dem Bären geworden war. Hatte man ihn in einer Bombennacht draußen an der Laterne angebunden? Hatte er im Feuerschein getanzt und überhaupt nichts verstanden, bis ihm der Ring aus der Nase riss? War er durch die Nacht gerannt, mit zerfetzter Schnauze, bis in den Grunewald, wo er heute noch lebte? Oder hatte er am Morgen versengt auf der Straße gelegen, zwischen den toten Pferden? Oder vielleicht, stellte Friedrich sich vor, hatte der Bär einen Weg gefunden, einen Geheimgang zum heilen Berlin, das es doch irgendwo geben musste, so ähnlich wie es Atlantis noch irgendwo gab, denn dieser Ort, wo alle jetzt waren, diese elende Stadt, konnte nicht die Wirklichkeit sein.
»Ja«, sagte Friedrich schließlich zu dem Kipper und gab ihm ein Taschentuch für die Wunden, »Sie wollten ein besseres Leben.«
Friedrichs Kollegen waren wütend. »Und wir?«, fragten sie, »was ist mit unserem Leben? Wir nehmen auch nicht einfach mit, was uns gefällt.«
Das stimmte nicht, denn sie hatten die Schreibtische in der Dienststube geplündert und die Schubladen und Sichtblenden zu Feuerholz gemacht. Es prasselte in dem kleinen Kanonenofen, dessen Rohr aus dem Fenster ragte. Manchmal trieb der Wind den Rauch zurück in den Raum, dann stellte sich jemand ans Fenster und versuchte, den Rauch mit einer Aktenmappe wegzuwedeln. Man durfte sich nicht auf die ausgeweideten Tische stützen, sie brachen sofort zusammen. Wenn Friedrich die Berichte tippte, auf den runden Tasten der schwarzen Olympia, schwankte sein Tisch und quietschte in den Nuten. Es gab kein Papier, deshalb benutzte er die Rückseiten alter Aktenblätter.
»Seht es doch mal so«, wandte er sich an die Kollegen. »Je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto komplexer sind ihre Verbrechen. Dass die Leute mehr als nur fressen, dass sie ein besseres Leben wollen, ist ein gutes Zeichen.«
»Verbrechen ist immer ein schlechtes Zeichen«, sagten die Kollegen.
»Nein«, erwiderte Friedrich, »es ist ein Zeichen dafür, dass die Leute Wünsche haben. Und sie sind der Lackmus dafür, dass das Leben weitergeht.«
»Sag das noch mal, Bialla, wenn so ein Lackmus dich selber beklaut«, beendeten die Kollegen das Gespräch.
Friedrich wurde zum Kriminalassistenten befördert und kam nach Schöneberg ins Betrugsdezernat II. Er sprach nicht mehr von seinen Gedanken über das Leben, aber er lächelte in den Verhören. Die Betrüger amüsierten ihn.
Einer hatte den Stempel im Postsparbuch mit einem Hühnerei gefälscht: Er hatte es angefeuchtet und auf dem Original abgerollt, dann den Abdruck übertragen, um unter falschem Namen Geld abzuheben. Ein anderer hatte jeden frühen Morgen in einem Hausflur am Stuttgarter Platz gewartet und Lieferungen für einen Lebensmittelladen entgegengenommen, der ihm nicht gehörte. Und einmal fasste Friedrich eine Beischlafdiebin, die es auf GIs abgesehen hatte. Morgens wachten die Männer verkatert und ohne Geld und Kleidung auf
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