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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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kam ihm jetzt älter vor als seine Frau. Jedes Mal nahmen sie sich vor, auf dem Rückweg New York zu sehen, aber sie machten es erst, als sie über achtzig waren, und auch nur, weil Käthchen darauf bestand und alles geplant hatte.
    Zwischen den großen, ausschreitenden Amerikanern auf dem Flughafen kam sich Friedrich verloren vor, und Ursula sah so klein aus. Sie versank in der Rückbank des Taxis, ihr Gesicht schwebte zwischen den Haaren. In der Ferne tauchte die Skyline auf.
    »Warum ist denn alles so … anders?«, fragte er. »Wo ist denn unser … Haus?«
    »Aber Friedrich«, flüsterte Ursula, »wir sind doch in New York.«
    Er sah sich um und wurde wütend, er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Offenbar war er weit gereist, um eine heile Stadt zu sehen, und jetzt fehlte einfach sein Haus. Auf einmal begann Ursula zu weinen, er wusste nicht, worüber, und schließlich, um sie zu beruhigen, schlug er ihr vor, mit dem Schiff zu fahren, obwohl er Schiffe nicht mochte. Sie fuhren durch irgendeinen Hafen, und Friedrich ärgerte sich schon wieder über die Skyline und wusste auf einmal nicht mehr, warum er sich ärgerte, und darum starrte er nur noch auf die Wellen und wusste nicht, ob es sie wirklich gab, und als er aufsah, hatte er irgendetwas verloren.
    Um ihn herum waren wirre Bilder, zu denen er keinen Bezug mehr fand, Gesichter und Fragen und laute Stimmen, aber in ihm waren die Wellen weg, er fühlte sich ruhig und wollte nichts. Nur die anderen wollten auf einmal so viel, er sollte immerzu sagen, wie er hieß und wo er war, und er dachte, warum müssen mich diese Figuren umtosen.
    Er sah die riesigen, nach außen gewölbten Bullaugen in der Kabinenwand, aber dahinter war kein Meer, sondern Wald, die Mannschaft trug weiße Kittel, und irgendjemand nannte ihn dauernd »Kapitän«. Das war ein Mann mit polierten Schuhen und Geheimratsecken. Friedrich erkannte, dass dieser Mann kriminell war, er hatte die Knastblässe im Gesicht und den glitzernden Hunger eines Betrügers. Der Mann wohnte mit in Friedrichs Kabine, und Friedrich verstand nicht, warum. Eigentlich verstand er gar nichts mehr, und darum fragte er in regelmäßigen Abständen: »Sind wir noch auf dem Schiff?«
    Er wusste nicht, wo er war, und er hatte die ganze Zeit das Gefühl, er hätte es eben, gerade eben, noch gewusst. Manchmal glaubte er, auf einem Geisterschiff zu sein, zusammen mit Toten. Die Augen der Reisenden waren so leer. Ein junges Mädchen hatte Sommersprossen, die in die Schatten der Unterlider gestürzt waren, eine Alte hatte sich leergewartet und schrie und schrie: »Ich falle! Ich falle!« Die Alte war eine Sommersprosse, die der Winter einsammeln wollte, und auch das Mädchen stürzte irgendwohin, es stürzte in die eigenen Wunden, die seine Arme übersäten. Und da war noch ein großer, verzweifelt kluger Mann mit schwarzen Haaren und tiefen Rillen in den Wangen, es waren die Rillen der Schienen auf dem Alexanderplatz, aber wie war der Alexanderplatz auf das Gesicht dieses Mannes gekommen? Friedrich rannte dem Kipper hinterher, der Schienenreiniger schlug mit dem Drahtbesen zu, und die Straßenbahnen fuhren wieder, mit Pappen in den zerborstenen Fenstern. Eine kleine, dürre, gelbe Frau war eine ausgetrocknete Schrippe, der Betrüger wollte sie essen. Eine prächtige Dame mit rotbraunen Locken hatte Blutergüsse und die Stimme eines Waisenkindes.
    Die Wasserfläche war jetzt glatt. Friedrich wusste, dass ihm die Geister nichts taten, sie waren nur Geister auf einem Schiff, das es nicht gab. Es waren nur die Träume der Geister, nur die Schatten der Träume der Geister, nur die Erinnerungen an die Schatten der Träume der Geister. Er wusste, dass diese Geister noch stürzten, und dieses Stürzen würde lange dauern, weil ihre Körper durch die Sphären flatterten und an Straßenschildern hängen blieben, die unversehrt aus den Trümmern ragten. Aber irgendwann wären sie auch da, wo er war, an diesem ruhigen Ort, und mit ihnen alle Betrüger, Käthchen Zablinski und der Kipper und der Mann mit dem Poststempel-Ei, und alle bekamen, was sie sich wünschten. Friedrich war in Berlin, in seinem Berlin, das sich losgerissen hatte und in das er wieder hineingetaumelt war, er war dort allein mit einem großen, schweren Tier. Er hatte keine Worte mehr, aber er brauchte auch keine, weil er alles wusste, er konnte es bloß nicht mehr sagen, er verstand, dass Worte nur Risse in dieser weißen Glätte waren, in der Fläche, die sich

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