Teufelsberg: Roman (German Edition)
Sinne erloschen, die Sprache verschwand. Sie hörte das Klacken des Tischtennisballs auf den Schlägern und sah nicht mehr nach den Spielern. Ihre Sohlen klebten an den getrockneten Zuckerlachen im Speisesaal, vor dem Fenster schwebten die Nebelzähne, und es roch, wie es roch. Die Fixierten trieben still durch den Flur und schauten in den Himmel, der durch das Dach aus Glasolexkugeln schien, weiß oder blau oder grau oder dunkelviolett.
Und während alles immer langsamer wurde, wurden die Pfleger, Schwestern und Ärzte immer schneller, sie eilten den Flur entlang in ihren quietschenden Gummischuhen, mit Nierenschalen aus Pappe in der Hand, worin Tabletten, Spritzen und Sprühflaschen lagen. Sie waren so schnell, dass Sylvia ihre Gesichter nicht sah, und irgendwann flatterten nur noch weiße Kittel auf und ab. In den Zimmern lagen die Patienten, unbeweglich, den ganzen Tag, Klumpen aus nassem Sand.
Es gab nur eine Zwischenfigur, eine, die beides zugleich sein konnte, langsam und schnell. Das war die wilde Jago Kapusta. Sie lobte jeden, und jeder freute sich darüber, sogar die Ärzte. Sie hatte orangeblonde Haare und schwarze Brauen, die Wimpernspitzen waren rot geschminkt. Sie roch nach Deo, Schweiß und Buttermilch. Sie tanzte und sang und zog sich mehrmals täglich um, nicht immer freiwillig.
»Frau Kapusta«, sagte ein Pfleger zum Beispiel, »Sie sollten hier nicht so kurze Röcke tragen, ziehen Sie sich was Anständiges an.«
»Mache ich«, flötete Jago und hüpfte auf ihr Zimmer, nichts an ihr war trotzig oder beleidigt. Als sie zurückkam, strahlte sie den Pfleger an. Sie trug jetzt einen Leopardenrock, der bis zu den Fußknöcheln ging.
»Besser«, sagte der Pfleger.
»Danke, Sie haben Geschmack«, sang Jago, »einen super, super Geschmack, fallera!«
Jago war schön, sie war verletzt und verwildert und weigerte sich, ihre Verletzung preiszugeben, sie bellte vor Lachen, immerzu.
»Wie schaffst du es nur immer, von hier wegzulaufen?«, fragte Sylvia.
Jago lachte. »Ich bin brav, dann darf ich rauchen, dann schleiche ich mich über die Treppe weg. Und um viertel vor sieben ist Pförtnerwechsel, abends, am blauen Container, da bleibt das Tor für fünf Minuten offen. Ich habe draußen einen Freund, der hat in der Seele einen Parkplatz für das Gute.«
Am Samstagmorgen erkannte Sylvia ihr Gesicht nicht mehr. Es war nicht echt, es war ein Gesicht voller Müdigkeiten, das aus dem Spiegel hervortrat, gleichzeitig war es verschwommen. Sylvia konnte nicht erkennen, warum es nicht echt war, und sie fragte sich, wer es ausgetauscht hatte. Sie lauschte nach Hinweisen, aber in der Luft war nur ein stampfendes Geräusch. Braune Augen, helle Haut, kleiner Mund, ein Nasenhöcker. So kannte sie sich, und zugleich war sie sich fremd. Als würde sie eine Nanosekunde in der Zukunft leben. Als bemerkte sie im Traum, dass sie gestorben war. Das Stampfen kam näher, und schließlich kauerte sie sich unter das Waschbecken und presste ihren Rücken gegen den grün lackierten Edelstahl und spürte den Siphon an ihrer Wange. Sie wollte nie wieder fort.
»Frau Berger, stehen Sie doch bitte auf«, sagte Schwester Dagmar, die unbemerkt das Bad betreten hatte. Sie hatte dicke Arme, schwere Lippen und kurze Haare.
»Hier ist nichts echt«, antwortete Sylvia mit einer hohen Kinderstimme. Die Stimme zwirbelte sich durch den Luftstrom vor ihrem Mund, die Stimme war ein Pfeifenreiniger, und Sylvia war eine Pfeifenreinigerpuppe, ein gebogener Draht mit Borsten, sie war ein Grashalm zwischen zwei Daumen, sie war das Fiepen des fernen Sommers.
»Kommen Sie, Frau Berger. Sie können doch nicht einfach da unter dem Waschbecken sitzen. Sie müssen doch auch an Ihre Zimmergenossin denken. Frau Fechner war tagelang auf der B, die darf sich nicht gleich wieder aufregen. Na machen Sie schon. Sie schaffen das, wenn Sie wollen.«
Ob ich aufstehen könnte, wenn ich wollte, dachte Sylvia, ob ich wollen könnte? Wollen könnte, Wolle, Wolle … Wolken …
Ihr wurde kalt, die Beine begannen zu schmerzen. Aber sie hob erst den Blick, als sie eine fremde Stimme hörte. Die Stimme gehörte einem Pfleger von der B, einem durchtrainierten Mann Mitte dreißig. Er sah nicht aus wie ein Krankenpfleger, eher wie ein Polizist, wie einer, der Betrunkene aus Bushaltehäuschen zerrt. Er musterte Sylvia und zog sich hellgraue Gummihandschuhe an.
»Frau Berger, wenn Sie nicht von selber aufstehen, hole ich Sie. Und ich habe schon ganz andere Leute aus dem
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