Teufelsberg: Roman (German Edition)
den Patienten sprachen: »Wenn Sie nicht endlich von der Tür weggehen, gibt es keine Zigaretten mehr!« »Wenn Sie Ihre Tabletten ausspucken, kriegen Sie eine Depotspritze!« »Wenn Sie uns Ihre Tasche nicht zeigen, schnallen wir Sie aufs Fixierbett!«
Gleich neben dem Dienstzimmer lag der Isolierraum. Ab und zu drang eine Stimme durch die Tür mit dem Sichtfenster, ein Schreien oder Wimmern oder Fluchen, aber meistens war es still. In der Nähe des Isolierraums hielt sich keiner gern auf. Wer durch das kleine Sichtfenster schaute, wurde verscheucht.
Einige Fixierbetten säumten den Flur, die leeren Schlaufen hingen seitlich herab, sie waren mit weißem Filz gefüttert.
Sylvia sah, wie Schwestern und Pfleger einen gefesselten Patienten durch den Flur schoben, der mit gespreizten Gliedmaßen auf einem dieser Betten lag und nach oben starrte, und sie musste an das ertrunkene Mädchen denken, das von den Bächen in die tieferen Flüsse schwamm, von Pflanzen und Tieren beschwert, während der Opal des Himmels sehr wundersam schien. Lautlos trieb der Fixierte dahin. Sylvia wunderte sich, wie es so weit gekommen war, sie hatte kein Schreien und Toben bemerkt.
Aber später am Tag beobachtete sie, wie ein Patient fixiert wurde. Das Isolierzimmer war schon belegt, die Zimmer überfüllt, darum wurde der Patient im Flur überwältigt. Sylvia sah, wie sich Ärzte und Pfleger rings um das Bett stellten, den Kreis enger werden ließen, sich vorbeugten und bald darauf auseinandertraten, und sie konnte nicht erkennen, wer von ihnen was getan, wer den Arm, das Bein, den Leib festgehalten, wer die Schlaufen angelegt und wer sie zugezogen hatte. Sie sah nur den Patienten in ihrer Mitte, den es aus irgendeiner Tiefe an die Oberfläche des Bettes getrieben hatte, und die Wellen im aufgewühlten Laken.
Auf der Geschlossenen roch es nicht nach Krankenhaus, nicht nach Desinfektionsmitteln und frisch gewischten Böden, sondern nach abgestandener Luft, nach ungewaschenen Haaren und Socken, nach Kloschüsseln, Schmutzspuren, Seifenspendern, Gummi, Butter und kaltem Kaffee. Es roch nach Straßen, die sich in den Herzen der Obdachlosen eingerollt hatten wie Chamäleonzungen, es roch nach den Gasen körperloser Stimmen, nach käsigen Pflastern, nassem Schaumstoff, kaltem Früchtetee und Brötchenkrümeln. Am stärksten war der Geruch im Speisesaal der B, der den Akutpatienten als Aufenthaltsraum diente. Unter den Schuhen knirschten die verschütteten Zuckerkrümel, die Leute grunzten, schlürften und murmelten. Die großen Thermoskannen machten Pumpgeräusche; wenn nur noch Luft herauskam, prusteten sie. Die Teebeutel flapschten in den Plastiktassen.
Sylvia versuchte selbst, die Leere des Tages so zu füllen: losgehen und einen Tee mit dem lauwarmen Wasser aufgießen, dasitzen und immer wieder am Beutel schlackern, langsam trinken, langsam die Tasse wegstellen, langsam weitergehen, langsam zurückkommen, langsam Tee aufbrühen, langsam trinken, langsam aufstehen, langsam, langsam, langsam, langsam. Im Speisesaal der B ging der Blick in den Innenhof der Cardea, auf die Glasolexsäulen, die dicht an dicht eine Nebelwand bildeten, und irgendwo in dieser Wand, zwischen den Zähnen des Nebels, wurde die Zeit eingesogen.
Hinter dem Speisesaal war die Wäschekammer. Zu bestimmten Zeiten stand die Tür offen, und die Patienten durften die Waschmaschine und den Trockner benutzen. Weil die Kleidung immer wieder gestohlen wurde, wachten die meisten während des Waschvorgangs an der Trommel. Manche, die ohne Wäsche zum Wechseln hier eingeliefert worden waren und denen niemand etwas brachte, trugen so lange ausgediente mintblaue OP-Kittel und OP-Hosen aus der Kleiderkammer der Station. Oft vergaßen die Patienten ihre Kleidung in der Waschmaschine. Es klebte zwar eine Liste auf der Maschine, in der jeder mit einem dazugehörigen Folienschreiber seinen Namen und seine Zimmernummer eintragen sollte, aber der Schreiber war ausgetrocknet, und so kam es, dass neben der Waschmaschine ein Korb mit anonymer Wäsche stand, sie wurde eine Weile aufbewahrt und dann an die Kleiderkammer abgegeben.
An den OP-Kitteln erkannte Sylvia, welche Patienten vereinsamt waren und welche noch geliebt wurden. Sie war überrascht, wie sich die Liebe über die Patienten verteilte. Die Alkoholikerin mit der breiten Narbe auf der Stirn und dem fehlenden Vorderzahn zum Beispiel bekam den ganzen Tag Besuch, und wenn das Stationstelefon klingelte, ein verschmierter Wandapparat
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