Teufelsberg: Roman (German Edition)
unter Spannung steht, dass er seinen Kopf gegen die Wand schlägt oder das Mobiliar zerdrischt, nimmt der doch Ihre Hand nicht mehr.«
»Aber Sie fesseln die Leute wegen jeder Kleinigkeit. Sie drohen ihnen auch ständig damit.«
»Frau Berger, so was passiert hier nicht, das wäre ja gesetzeswidrig. Wie kann ich Ihnen bloß diese Ängste nehmen? Wir sind hier nicht böse. Vielleicht mal gestresst oder ruppig, aber wir wollen immer nur helfen.«
Er lächelte sie an.
Das Lächeln ärgerte sie, aber sie sagte nichts mehr.
An der Tischtennisplatte machte Sylvia jedes Mal kehrt und wanderte zurück auf die A, bis zum Aufgang des Wintergartens, bis zum Fahrradergometer, bis zum Dienstzimmer, bis zum Zimmer von Lotti, wo das Licht seine Zunge durch den Türspalt streckte, an den Zimmern der Männer vorbei bis zum Ende des Flures. Vor dem Bild von Horst Vierer blieb sie kurz stehen. Das Bild zeigte die Apokalypse, ganz unten lagen die Strichmännchen noch geborgen in ihren Betten, dann wurden sie von einer unsichtbaren Macht herausgezerrt und über eine Wiese geschleudert, die keine Wege hatte. Manche verloren den Boden unter den Füßen und schwebten zwischen den Wolken herum. Auch der Himmel hatte keine Wege mehr, nichts mehr hatte Wege, nicht einmal die Gedanken, die ganze Welt war eine aufgeplatzte Matratze.
Einen Moment lang betrachtete Sylvia das Bild, dann kehrte sie um und wanderte zurück zum Wasserspender im Aufenthaltsraum und zur Tür der B, bis zum Speisesaal, bis zur Wäschekammer, bis zum Wannenbad, bis zur Tischtennisplatte und wieder zurück auf die A, bis zum Aufgang des Wintergartens, bis zum Ergometer, bis zum Dienstzimmer, bis zum Zimmer von Lotti, an den Zimmern der Männer vorbei bis zum Bild von Horst Vierer.
Schon am Donnerstag verloren diese Ziele an Bedeutung, und je bedeutungsloser sie wurden, desto langsamer wurde Sylvia, und sie merkte an der Langsamkeit der anderen Wandernden, wer schon lange hier und wer neu war. Nur Gott hatte sie noch immer nicht gefunden. Einmal glaubte sie, ihn in einer Frau mit grobporiger Nase zu erkennen. Die Nase ähnelte einem Kieselhaufen, möglicherweise ein Engelsrest. Die Frau trug einen OP-Kittel, man hatte ihr die verschmutzte Kleidung weggenommen, auch den BH, die schweren Hängebrüste zeichneten sich unter dem Kittel ab. Die Tasche des Kittels war prall mit Mayonnaise-Päckchen gefüllt. Zwischendurch nahm die Frau ein Päckchen heraus, riss es auf und schmierte mit den Fingern an die Scheiben: »Pigschwein, hilf!« Dann befingerte sie die Fugen zwischen den Betonplatten. »Pigschwein«, flüsterte sie, »Pigschwein, hilf.«
Mit den Menschen sprach sie kein Wort. Nicht mehr lange, und die Neuroleptika würden das Pigschwein schlachten, wenn es nicht schnell genug von selbst verschwand. Sylvia fragte sich, wie viele solcher Gestalten schon in die Fugen zurückgewichen waren und ob sie irgendwann wieder herauskommen würden, eines Nachts, um Rache zu nehmen an ihrer Vertreibung, das Pigschwein und die Aliens, die Fratzen, Erdwürmer, Goldkinder und Verfolger und all die anderen unsichtbaren Wesen, die auf allem spazierten, als wäre es nichts. Auch die Engel, die Sylvia wahrnahm, würden bald in den Fugen verschwinden. Bald, wenn die Apokalypse kam.
Dann sah Sylvia Gott in einer stummen Vietnamesin. Ihr Mann besuchte sie jeden Tag und führte sie auf und ab, in winzigen Schritten, stundenlang. Sie hielt die Arme steif am Körper. Im Raucherraum, hatte Beate erzählt, liefen Wetten, wie lange der Mann noch käme; manche Ehemänner reichten die Scheidung schon in den ersten Anstaltstagen ein. Aber der Vietnamese kam immer wieder. Vielleicht, dachte Sylvia, war er glücklich, er hatte einen Stein gefunden, den er immer zurück auf den Berg bringen konnte, und es wäre für ihn ein Unglück, wenn der Stein sich in einen Menschen zurückverwandelte. Es wäre auch für den Stein ein Unglück, er müsste ein zerstörtes Leben mit Sinn und Aufgaben füllen, er müsste das Ende der Nacht umarmen. Was aber sollte ein Stein mit dem Ende der Nacht?
Oder war Gott die Alte mit den zerrissenen Nylonstrumpfhosen? Sie war schon immer da, und nie verließ sie ihre Station, sie drehte sich mit leerem Blick an immer derselben Stelle um, ihr Hals war schief, die linke Schulter hing, und manchmal blieb die Alte einfach stehen in ihrem inneren Jardin des Plantes, bis ihr irgendwann eine der Schwestern einen sanften Schubs gab.
Am Freitag fiel Sylvia nichts mehr auf, ihre
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