Teufelsberg: Roman (German Edition)
Bad gekriegt.«
»Aber ich habe doch nichts getan«, fiepte der Grashalm.
»Ich zähle bis drei. Eins …«
Langsam stand Sylvia auf. Wie ich mich hasse, dachte sie.
Der Pfleger von der B ging fort, ohne sie noch einmal anzusehen. Schwester Dagmar führte Sylvia in ihr Zimmer, an den Tisch, wo das Frühstück wartete.
»Ich habe Ihnen schon alles hingestellt.«
»Danke.«
»Ab zehn ist Wochenendvisite, die macht heute und morgen der Chef«, sagte Schwester Dagmar.
»Okay.«
»Wenn dann nichts weiter ist, wünsche ich Ihnen einen schönen Tag.«
»Gleichfalls.«
Sylvia warf einen Blick auf Annika, die noch im Bett lag. Ihre langen schwarzen Haare streiften das Kissen mit dem Emblem der Cardea. Ihr Unterarm sah unter der Decke hervor. Am Dienstag hatte sie versucht, sich umzubringen. Sie trug keinen Verband mehr, die zwei Schnitte über dem Puls wurden von grünen Fäden zusammengehalten. Rings um die Einstiche war die Haut blaugrau und gelb. Der Arm war von weiteren Narben übersät, sie erinnerten an fleischige rote Würmer.
Gestern Abend hatte Annika Martin als Schwein beschimpft, zweimal. Jetzt gähnte sie und hob den Kopf. Ihre Stimme klang gepresst.
»Sylvia, ich muss mit dir reden. Ich habe auf der B was erfahren. Ich wollte es gestern schon sagen. Es geht um dich und Jago. Du weißt schon, die wilde Kapusta.«
»Schlaf noch eine Weile, Annika«, sagte Sylvia, und das Mädchen ließ den Kopf wieder sinken.
Sylvia aß mehrere Scheiben Knäckebrot mit Camembert, Rosinenbrötchen mit Erdbeermarmelade und eine Scheibe Vollkornbrot mit eingelegtem Hering, außerdem einen Sahnejoghurt mit Kirschen und eine kleine, harte Banane. Danach war sie unzufrieden.
Sie bekam drei verschiedene Medikamente. Sie hatte kein Sattgefühl mehr, ihr war schwindelig, und dauernd zuckten ihre Hände. Sie war sich nicht sicher, ob ihre schwarze Jil-Sander-Hose, die sie das letzte Mal am Montag getragen hatte, noch passte. Wenn sie den Flur entlangging, sah sie ihr Spiegelbild in der Glastür, es bewegte sich in Zeitlupe.
Am Wochenende gab es keine Therapien. Darum sah sie eine Weile fern, mit Kopfhörer, um Annika nicht zu wecken, aber es liefen nur Trickfilme und Reportagen und die morgendliche Wiederholung der Unterhaltungsshow »Das Bergwerk – Ich bin ein Promi, Glückauf, Glückauf«. Das interessierte sie nicht. Durch die Wand hörte sie, wie Lotti die Sendung schaute, dröhnend laut.
Sylvia zappte noch ein paarmal hin und her, dann zog sie sich an. Der Bund ihrer Jogginghose war fast schon zu eng, und ihr Pulli lag straff über dem Bauch.
Sie ging in den Wintergarten. Dort traf sie auf Xaver und Falko. Auch der demente Friedrich war da, in seinem weißen Leinennachthemd, aber anders als sonst stellte er keine Fragen.
»Guten Morgen«, sagte sie – und an Xaver gewandt: »Na, wie ist es, zurück auf der A?«
»Toll«, antwortete der. Sein sperriger Körper wirkte nicht mehr so hart und angespannt. Sie hatten ihn wohl zugepumpt. Er war sockfuß, seine großen Zehen mit den lang gewordenen Nägeln bohrten sich durch die dünne Wolle.
»Schön, dass es dir besser geht, Xaver«, sagte sie.
Er erinnerte sie an eine Fichte, die man in die falsche Umgebung verpflanzt hatte, er rührte sie. Am Mittwoch hatte er das Ergometer im Flur umarmt und dabei gestammelt: »Es gibt nichts, Sylvia, es gibt nichts mehr.« Wenig später hatte er die Scheibe zum Dienstzimmer zertrümmert. Von allen Seiten waren Pfleger herbeigerannt; ihre Schuhe quietschten auf dem Kunstharzboden, ihre Hände griffen Xaver und trugen ihn fort. Sein Gesicht sah zerklüftet zwischen den weißen Kitteln hervor. Einen Moment lang fragte sich Sylvia, warum niemand, auch sie selbst, nicht eingriff. Sie starrte ihn einfach nur an, so wie Martin sie einfach nur angestarrt hatte, am Montag, als sie sich selbst geschlagen hatte.
Neben Xaver hatte es sich Falko im Sessel bequem gemacht und die Füße hochgelegt. Er trug wie immer polierte Schuhe und ein Jackett. Sylvia mochte ihn zwar nicht ganz so gern wie Xaver, aber ihr gefiel seine Frechheit. Er salutierte vor Friedrich, er lachte über den Beißer von Beate, und dass Lotti seit sechsundsechzig Jahren auf ihren verschollenen Verlobten wartete, machte ihn neugierig. Vielleicht war das der Grund, dass alle so gern in seiner Nähe waren, auch Sylvia. Wenn er sich über sie mokierte, kam es ihr einen Moment lang so vor, als wäre die Apokalypse noch fern.
Sie ließ sich in einen der Sessel sinken,
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