Teufelsengel
fügte sich da nahtlos ein.
Ich hab genauso Angst wie du, sang Rosenstolz.
Der Text der Songs mischte sich mit Alices Tagebuchnotizen und Romys Gedanken. Und plötzlich konnte Romy das alles nicht mehr voneinander unterscheiden.
Ich denk mir für dich einen Himmel aus (Rosenstolz).
Er hat mir die Sterne versprochen (Alice).
Romy legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie war hundemüde und schmerzhaft wach. Ihre Gedanken waren klar und scharf. Kristallsplitter. Lichtblitze. Nicht zu fassen, nicht zu halten.
Rosenstolz sang von Vergeblichkeit. Diese dünne, zerbrechliche Frauenstimme, bei der Romy immer Angst hatte, sie würde beim nächsten Ton versagen, genau wie die Liebe, die sie besang, und die Welt.
Irgendwann hörte Romy die Musik nicht mehr. Da war sie ganz bei Alice, vergaß ihren Tod, vergaß, dass dieses Tagebuch eigentlich in die Hände der Polizei gehörte. Mit jedem Wort wurde das Mädchen lebendiger.
Manche Dinge darf man nicht niederschreiben, sonst werden sie wahr. Oder sie finden nicht statt. Je nachdem. Vor allem über die Liebe darf man nicht schreiben, denn sie ist scheu und kann sich von jetzt auf gleich in Luft auflösen.
Deshalb schreibe ich nicht über dich, Liebster. Ich tu so, als gäb es dich gar nicht.
Anfangs war noch von der Schule die Rede, vom Alltag zu Hause. Von Schwierigkeiten mit den Eltern. Familienfesten. Streitigkeiten. Von ihrem Freund Tobias.
Und vom Tanzen.
Dann verengte sich der Fokus unmerklich. Alice wurde vage. Sie nannte die Dinge nicht mehr beim Namen. Die Trennung von Tobias erwähnte sie mit keinem Wort.
Sie war unglücklich, das konnte man deutlich spüren, und auf manchen Seiten fanden sich eingetrocknete Nässeflecken, die wohl von ihren Tränen stammten, aber an keiner Stelle verriet Alice, warum sie so unglücklich war.
Wo es doch einen Liebsten gab.
Den sie allerdings kein zweites Mal erwähnte.
Als Romy sich in Cal verliebt hatte, war ihr das Herz übergelaufen vor Glück, und ihre Hormone hatten verrückt gespielt. Sie hatte seinen Namen nicht oft genug aussprechen können und jede Gelegenheit dazu genutzt, die sich bot.
Alice, dachte sie. Was war los mit dir?
Im letzten Drittel kam zu ihrem Unglücklichsein etwas anderes hinzu. Angst. Doch auch darüber breitete Alice ihre Schleier aus.
Diese Angst in mir.
Ich kann das Entsetzen auf der Zunge schmecken.
Erschrecke vor den Schatten. Kann meinen fiebrigen Herzschlag hören.
Und dann brach das Tagebuch ab, völlig unerwartet und mitten im Satz.
Kann nicht mehr weinen. Hab keine Tränen mehr. Und keine Fragen. Nur eine noch: Was wird …
Gänsehaut kroch Romy über den Nacken. Ihr war so kalt, dass sie zitterte. Rosenstolz war verstummt. Sie hatte es nicht bemerkt.
Sie sind unserer Alice sehr ähnlich.
Vielleicht war sie das wirklich. Sie schien sogar die Angst des Mädchens zu teilen.
Vero drehte den Schlüssel im Schloss und entfernte sich. Pia lauschte seinen Schritten, bis sie nicht mehr zu hören waren. Sie war so erleichtert, dass ihr die Tränen kamen.
Noch nie hatte sie solche Angst vor ihm gehabt. Kerzengerade hatte er in der Kirche neben ihr gekniet, den Blick unverwandt auf den Gekreuzigten gerichtet. Seine Stimme war gewesen wie immer, tief und sicher.
Doch etwas an ihm hatte Pia vor Furcht erstarren lassen. Seine ungewöhnliche Ruhe vielleicht und dass er ihr keine Vorwürfe machte, ihre Abwesenheit nicht mal erwähnte.
Die Gebete verhießen nichts Gutes. Es war von Schuld die Rede, von abtrünnigen Seelen und von Reue.
Und lehre uns, das Kreuz zu tragen, wie du es einst getan hast, Herr.
Nimm unsere Demut an.
Erlöse uns von unseren Sünden.
Pia wollte kein Kreuz tragen. Sie wollte nicht demütig sein. Und war man denn schon eine Sünderin, nur weil man einen Tag und eine Nacht außerhalb des Klosters verbrachte?
NEIN, schrie es in ihr.
Doch über ihre Lippen kam kein Ton.
NEIN! Sie wand sich neben Vero, zu Füßen des Altars, auf den kalten, glatten Fliesen.
Doch sie bewegte sich nicht.
Nein …
Sie wollte nicht beten, nicht in diesem Moment und nicht auf Befehl. Vero zwang ihre Hände zusammen und hielt sie fest.
Vater im Himmel, steh uns bei.
Gib deine Kinder nicht auf, wenn sie in die Irre gehen.
Pia wollte sich die Ohren mit den Fingern verstopfen, aber Vero hielt ihre Hände wie ein Schraubstock umklammert. Sie schloss die Augen und versuchte, sich ein weites Schneefeld vorzustellen, das im Sonnenlicht funkelte.
Und darauf
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