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Teufelsfrucht

Teufelsfrucht

Titel: Teufelsfrucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hillenbrand
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unter einer kleinen Veranda ein Deckchair. Wände gab es keine, aber der weinverliebte Kieffer hatte zwischen den das Dach tragenden Metallpfosten Drähte gespannt, an denen Rivaner-Reben emporkletterten. In dieser kleinen Höhle konnte er stundenlang im Liegestuhl sitzen, den Fluss beobachten und seinen Gedanken nachhängen. Kieffer machte es sich bequem, öffnete den ersten Weißburgunder und fing an zu lesen.

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    26
    Bei der Lektüre des Dossiers stellte Kieffer verblüfft fest, dass Gero Wyss gewissermaßen ein Kollege war. Der Schweizer stammte aus Marly, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Fribourg, wo Wyss’ Vater einen Gasthof betrieben hatte. Der junge Gero war ihm bereits als Bub zur Hand gegangen. Der Schweizer hatte damals vermutlich mehr Zeit in der Restaurantküche verbracht als Kieffer in seinem ganzen Leben. Eine formelle Ausbildung zum Koch hatte Wyss nicht absolviert, aber was hieß das schon.
    Stattdessen hatte der Schweizer in den frühen Achtzigern Chemie und Lebensmitteltechnologie studiert, in Deutschland und Frankreich. Danach hatte er, wie Kieffer aus dem »Nouvel Observateur« erfuhr, eine Dissertation über Milcheiweiße verfasst, an der Universität Toulouse geforscht und war kurz darauf von einem japanischen Joghurthersteller abgeworben worden.
    Wyss’ fast zehnjähriger Japanaufenthalt hatte ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Grund hierfür war vor allem ein neuartiger Joghurt, den der Chemiker für seinen Arbeitgeber Ajimono erfunden hatte. Durchdas Manipulieren gewisser Milchsäurebakterien war es Wyss gelungen, ein Lebensmittel zu entwickeln, das nicht nur gut schmeckte, sondern angeblich auch die Abwehrkräfte stärkte und die Darmtätigkeit regulierte. Dieser Superjoghurt fand reißenden Absatz und machte Wyss’ Firma zu Japans Marktführer für Milchprodukte.
    Wyss’ Genie, das war dem Dossier zu entnehmen, lag nicht so sehr in der Tatsache begründet, dass er ein brillanter Chemiker war. Was ihn auszeichnete, waren sein untrügliches Gespür für clevere Marketingmaschen und das Fehlen jedweder wissenschaftlicher Redlichkeit.
    Die Wirkung des Joghurts etwa war unter Fachleuten höchst umstritten, ebenso wie die eines Wyss-Vitaldrinks gegen Faltenbildung und anderer Produkte. In dem Dossier wurden allerlei Studien zitiert, laut denen nicht ein einziges der Wunderprodukte eine nachweisbare Wirkung besaß – abgesehen von Wyss’ Verdauungs-Joghurt, der bei rund fünf Prozent der Konsumenten nachweislich schwere Flatulenzen verursachte.
    Mitte der Neunziger war Wyss in seine Heimat zurückgekehrt und hatte beim Zürcher Lebensmittelriesen Hüetli angeheuert. War der Joghurt sein Gesellenstück gewesen, lieferte er nun jenes Meisterstück ab, das ihm den Titel »Doktor Frankenkäse« eintragen sollte.
    Hüetlis Käsesparte hatte damals ein Problem. Das Unternehmen war einer der größten Hersteller von Appenzeller und anderen Schweizer Käsen, produzierte aber alljährlich auch Hunderte Tonnen Mozzarella, Cheddar, Jarlsberg oder Brie. Die Rendite dieser Naturprodukte war jedoch kärglich, was daran lag, dass Käse viel Zeit und Liebe erforderte. Ein guter Appenzeller musste nicht nur über Monate im richtigen Klima reifen; jederLaib war zudem wöchentlich von Hand mit einer speziellen Kräutersulz zu bepinseln – ein ungeheuer aufwendiges und kostspieliges Verfahren, das dem Management von Hüetli bereits seit Langem ein Dorn im Auge gewesen war.
    Hinzu kam: Dem Unternehmen ging zunehmend Umsatz durch die Lappen, als die Nachfrage nach Käse in den frühen Neunzigerjahren rasant anzog. Da waren zum einen Amerikaner und Briten, die herausgefunden hatten, dass außer Cheddar noch andere Käsesorten existierten. Und zum anderen Chinesen und Japaner, die Käse überhaupt erstmals als Nahrungsmittel entdeckten und plötzlich containerweise hochwertige Produkte aus der Schweiz und Frankreich orderten. Hüetli hätte seinen Absatz verdoppeln können – doch es gab schlichtweg nicht genug Käse. Die Weltproduktion von Sorten wie Schabziger oder Morbier reichte bestenfalls aus, um den kontinentaleuropäischen Bedarf zu decken.
    Der Konzern brauchte folglich einen gewieften Lebensmittelchemiker, der dafür sorgte, dass mehr Käse in kürzerer Zeit produziert wurde. Für diese Aufgabe warb Hüetli Wyss bei Ajimono ab. Seine Vorgänger hatten bereits mit sogenannten Analogkäsen experimentiert – Kunstkäsen, die aus Tierfett, Eiweißpulver und künstlich hergestellten

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