Jetzt bräuchte ich noch Ihre E-Mail-Adresse. Das Wyss-Dossier bekommen Sie dann in den nächsten Tagen, dafür muss ich erst noch ins Büro. Darüber hinaus würde ich Sie gerne noch einmal persönlich treffen.«
»Wozu?«
»Na ja, zum einen, um den Tatort in Augenschein zunehmen. Und zum anderen würde ich gerne den Rest erzählt bekommen.«
»Welchen Rest? Mehr weiß ich nicht. Ich hoffe ja gerade, dass Sie herausfinden, wer diese beiden Morde begangen hat.«
Perigot schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Natürlich wissen Sie noch mehr, Sie enthalten mir noch mehrere leckere Gänge vor. Aber das macht gar nichts, alles zu seiner Zeit. Ich werde versuchen, mit diesem Manderscheid ins Gespräch zu kommen, und könnte in einigen Tagen runterfliegen, ich meine nach Luxemburg. Vielleicht am Donnerstag. Vor der Boudier-Beerdigung am kommenden Sonntag ist nämlich noch mal ein größerer Artikel geplant. Und Sie könnten mir erzählen, was ihn kulinarisch auszeichnete, warum er Ihrer Meinung nach ein guter Koch war. Sie hielten ihn doch für einen guten Koch, oder?«
»Für einen ausgezeichneten Koch«, sagte Kieffer. Über die Toten nur Gutes.
»Wunderbar, also darüber könnten wir reden. Oder über Details zum Mordfall, falls Ihnen dazu bis dahin noch etwas einfällt …«
»Schauen wir mal. Schicken Sie mir das Dossier an
[email protected], und melden Sie sich, wenn Sie nach Luxemburg kommen.« Sie verabschiedeten sich voneinander.
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25
Am Dienstagnachmittag fand Kieffer in seinem Postfach eine Mail vor, die von Perigot stammte. Der Journalist hatte sich nicht lumpen lassen. Der voluminöse Dateianhang umfasste Dutzende Zeitungs- und Magazinartikel über Gero Wyss, viele aus Fachpublikationen wie »Food Design« oder »The MIT Culinology Review«, von denen Kieffer noch nie in seinem Leben gehört hatte. Einige der Texte waren winzige Meldungen, die nur wenige Zeilen umfassten und auf einen Vortrag oder Auftritt Wyss’ hinwiesen – der Mann schien ein gefragter Redner zu sein. Andere Berichte waren sechs oder sieben Seiten lang, bunt durcheinandergewürfelt und in Deutsch, Englisch und Französisch verfasst. Neben den journalistischen Artikeln gab es etliche Pressemitteilungen und Hintergrundpapiere einer Organisation, die sich »Les Amis du Fromage« nannte – die Käsefreunde. Er druckte alles aus.
Kieffer überließ die Küche Claudine und beschloss, das Wyss-Dossier zu Hause zu sichten. Es war gegen 17 Uhr, und er konnte von der Terrasse des »Deux Eglises« die tief stehende Sonne auf der Alzette funkeln sehen, diein ihrem steinernen Bett durch Clausen floss. Es waren fast 25 Grad, ein idealer Gartentag; heute würde er problemlos bis Mitternacht in seiner Laube am Flusslauf sitzen können.
Er legte den dicken Packen Texte auf den Beifahrersitz und holte sich aus dem Weinkeller zwei Flaschen Pinot blanc von der Mosel. Dann schaute er noch einmal in den Schankraum. Er war fast leer, und Kieffer ging davon aus, dass es heute auch nicht mehr voll werden würde. Deshalb ging er in die Kühlkammer und stibitzte sich noch eine der gefüllten Tageskarten-Poularden.
In seinem Häuschen in der Rue St. Ulric, wie die von den Einheimischen Tilleschgass genannte Straße offiziell hieß, packte Kieffer zunächst seine Poularde in eine kleine casserole. In seinem Restaurant würden die Gäste sie mit einer Riesling-Schalotten-Soße, sautierten Pastinaken und Stärzelen, luxemburgischen Knödeln aus Heidekornmehl, serviert bekommen.
Das war ihm heute zu kompliziert. Der Hauptgang war ja gewissermaßen das Dossier, das Perigot ihm geschickt hatte, weswegen er keine Zeit aufs Kochen verschwenden wollte. Er würde das Hühnchen einfach einige Stunden auf niedriger Temperatur garen, bis es fast auseinanderfiel, und es dann mit den Fingern zerreißen und mit etwas Weißbrot hinunterschlingen, wie eine Art besseren Imbiss-Bratgeier. Er stellte den Regler auf 80 Grad, gab noch einen Schuss Weißwein und ein bouquet garni zu seinem Huhn und ließ den Bräter im Ofen verschwinden. Dann begab Kieffer sich mit Papieren, Weißwein, etwas Käse und einer Packung Ducal zu seinem Lieblingsplatz im Garten.
Gerne saß Kieffer mit Vatanen an dem sonnenbeschienenen Tischchen neben der Rückwand seines Hauses. Noch lieber war ihm jedoch sein Plätzchen am Fluss. Die Alzette lief am hinteren Ende seines Gartens entlang, und direkt oberhalb der Kanalmauer hatte Kieffer sich eine behagliche Sitzecke eingerichtet. Hier stand