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Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)

Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)

Titel: Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelie Wendeberg
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Kollegiums, in sandfarbenem Baumwollhemd, einer etwas dunkleren Baumwollhose und Lackschuhen. Seine Haare waren mit Makassaröl in den Nacken zurückgekämmt und glänzten. Gebildet, distinguiert und auf eine eigenartig grazile Weise attraktiv. Die Hälfte der Krankenschwestern des Guy’s fühlte sich zu ihm hingezogen. Was für eine Verschwendung.
    Ich knöpfte das Hemd auf, streifte es ab, hängte es auf einen Bügel und entledigte mich dann meiner Schuhe, der Hosen und Strümpfe. Mit den Fingerspitzen stocherte ich in der Bandage um meine Brust herum, bis ich ein Endezu fassen bekam und den Busen von dem Druck befreien konnte. Während ich das Baumwollband zu einer Rolle wickelte, verblassten die roten Streifen auf der Haut allmählich. Beim Ausziehen der Unterhose amüsierte ich mich immer wieder über das absurde Ding zwischen meinen Beinen. Auch nach vier Jahren hatte ich mich noch nicht an meinen Penis gewöhnt. Er war aus feinstem Kalbsleder und mit einem Gurt um meine Hüfte befestigt. Wenn man das Ding nicht zu genau betrachtete, wirkte es authentisch. Ein dünner Schlauch führte vom künstlichen Penis zu einem kleinen, mit Wasser gefüllten Lederbeutel. Von Zeit zu Zeit ging ich mit einem meiner Kollegen am Urinal pinkeln, was nachhaltig alle Zweifel an meinem Geschlecht beseitigte, noch bevor sie überhaupt aufkommen konnten.
    Behutsam schnallte ich das Utensil ab, wickelte es in ein Tuch und steckte es in meine Arzttasche.
    Während ich auf mein nacktes Selbst schaute, ließ ich die Erkenntnis einsickern, wieder eine Frau zu sein. Jeden Morgen trennte ich mich von meinem weiblichen Teil und machte mir selbst weis, ein Mann zu sein. Das war der einzige Weg, mich nicht zu fürchten. Für Angst hatte ich bei der Arbeit keine Zeit.
    Sollte meine wahre Identität ans Licht kommen, würde ich einfach irgendwo anders ein neues Leben beginnen. Das redete ich mir zumindest ein. Doch es gab da diesen Teil meines Unterbewusstseins, der mir in solchen Momenten zuflüsterte, wie schwer es wäre, all das zu verlieren, was ich bisher erreicht hatte. Doch ich hörte nur selten zu.
    Die linke Seite des Kleiderschrankes enthielt die weiblichen Bekleidungsstücke. Ich zog ein Unterhemd an, Strümpfe, einen Petticoat und ein einfaches Leinenkleid.Ein Tuch um meinen Kopf verbarg das recht kurze Haar. Insgesamt war ich keinen zweiten Blick wert, und dennoch war es, als ich wieder auf die Straße trat, als böte ich mich auf dem Markt für geschlechtliche Fortpflanzung feil. Die Hälfte der Männer, an denen ich vorbeilief, nahm mich wahr. Einige neigten sich fast unmerklich zu mir hin oder streckten wie unbeabsichtigt die Hand aus, nur um flüchtig meine Schulter oder Taille zu berühren. Als Frau lagen mir unzählig mehr Hindernisse im Weg.
    Von der Bow Street ging ich nordwärts ein paar Straßen bis zu meiner kleinen Wohnung in der Endell Street, direkt im schlimmsten Elendsviertel des Britischen Königreiches – St. Giles.
    London war ein Monster mit vielen Köpfen oder vielen Gesichtern, um genau zu sein. Man konnte eine saubere und geschäftige Straße hinunterflanieren, doch wenn man falsch abbog, verschwand man in einem Labyrinth dunkler, dreckiger Gassen, bewohnt von Millionen von Ratten so groß wie Fußbälle. Nager gediehen in den Slums besser als alles andere, da sie als einzige Bewohner stets genug zu fressen hatten, sei es vergammelnder Kohl, Fäkalien oder Kadaver von Mensch und Tier. Der Uneingeweihte würde wahrscheinlich sofort umdrehen, zumindest, wenn er nicht ausgeraubt, verprügelt oder sogar ermordet werden wollte. Sauberes Wasser war eine Rarität, genauso wie Nahrung, ein Dach über dem Kopf, ein warmer Platz im Winter, Kleidung und grundsätzlich alles, was das Leben einigermaßen annehmbar machte.
    Am anderen Ende der Skala gab es die ruhigen und sauberen Gegenden der Oberschicht. Perfekt gekleidete und wohlerzogene Damen machten mit edlen Herren einen Spaziergang durch den Park, ohne von den Armen und Dreckigen belästigt zu werden. Hier waren sogar dieBüsche gut frisiert. Die Leute hatten genug zu essen, was für ihre Angestellten allerdings nicht immer galt.
    Jeden Tag führte mich mein Weg zum Guy’s Hospital durch diese gegensätzlichen Viertel von Londons Reichen und Armen. Jeden Tag sah ich die Verwandlung der Stadt, von zauberhaften Villen zu Bruchbuden, bei denen Sackleinen oder ramponierte Strohhüte die fehlenden Fensterscheiben ersetzten.
    Und mit ihnen verwandelte auch ich mich,

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