Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)
wie viele sich heimlich überdas entsetzliche Aussehen des Mannes lustig machten. Ich schaute auf und fuhr fort: »Bedeutet dies notwendigerweise, dass er an Tetanus gestorben ist? Nein, keineswegs! Ich rate jedem hier im Saal, sich den Verstand nicht durch beschränktes Wissen vernebeln zu lassen. Nur weil wir glauben, es müsse Tetanus gewesen sein, bedeutet es nicht notwendigerweise, dass dies tatsächlich der Fall war. Vorurteile behindern das Lernen! Erst wenn wir alles gelernt haben, was es zu lernen gibt, nachdem wir untersucht und beobachtet haben, erst dann können wir unsere Schlüsse ziehen. Und erwarten Sie nicht, meine Herren, immer Antworten auf Ihre Fragen zu finden. Wenn Sie Ihr Bestes geben und sich trotzdem keine Erklärung finden lässt, ist es akzeptabel und ehrbar zu sagen: Ich weiß es nicht.«
Einige Studenten schauten perplex. Sie hatten gelernt, dass Überlegenheit mit dem Beruf des Mediziners Hand in Hand ging. Was meiner Meinung nach vollkommener Blödsinn war.
»Sehen Sie sich selbst als Wissenschaftler. Wissen zu schaffen ist ein ständiger Prozess, genau wie das Lernen. Sie lösen ein bakteriologisches Verbrechen, meine Herren! Ihre Anatomie-Professoren lehren Sie, die Personen, die Sie sezieren, als eine Art Ding zu sehen. Es ist einfacher, ein Ding auseinanderzuschneiden als einen Menschen. Doch wenn Sie es so sehen, ignorieren Sie grundlegende Faktoren. Der Betreffende könnte an einer ansteckenden Krankheit gestorben sein, was ihn zu einem Menschen mit einer bedeutsamen Geschichte macht. Einer Geschichte, die Sie enthüllen müssen! Wie sonst könnten Sie den Krankheitserreger bestimmen und ihn an der Ausbreitung hindern? Lesen Sie Dr. Snows Bericht über den letzten Ausbruch von Cholera und wie erdie Pumpe auf der Broad Street als Überträger identifizieren konnte. Der Mann hat die Geschichte der Choleraopfer studiert, und nur dadurch konnte er eine weitere Ausbreitung der Krankheit erfolgreich verhindern. Wenn Sie morgens aufwachen – und ich meine jeden einzelnen Morgen! –, möchte ich, dass Sie an das Eine denken, das wir zweifelsfrei wissen: nämlich, dass unser Wissen begrenzt ist. Wenn Sie damit fertig sind, können Sie gleich auch noch eines Ihrer liebsten Vorurteile aus dem Fenster werfen.«
McFadins Gesicht kehrte zu seiner normalen Farbe zurück, und er schien fast stolz darauf zu sein, ein so gutes Demonstrationsobjekt gewesen zu sein. Alle hingen an meinen Lippen, und die Vorstellung konnte beginnen.
»Wenn ich bitten darf …«. Ich winkte sie heran. Für anatomische Vorführungen war das ungewöhnlich. Normalerweise wurden die Studenten gebeten, respektvoll auf Distanz zu bleiben. Ich brach mit dieser Regel, denn meine Studenten sollten genau beobachten können. Allerdings musste ich die Zartbesaiteten im Auge behalten; normalerweise half es, wenn sie etwas zu tun bekamen. So weit jedoch sahen alle tapfer aus. »Erzählen Sie mir, was Sie sehen.«
Einige Studenten antworteten.
»Seine Kleidung ist schmutzig und alt.«
»Er ist dünn.«
»Er hat braunes Haar.«
»Er ist ungefähr vierzig Jahre alt.«
»Sein Körper ist verkrümmt.«
Ich unterbrach, »Vielen Dank! Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um einen armen Mann mit braunen Haaren handelt, der wahrscheinlich dreißig Jahre alt war. Armut lässt Menschen häufig schneller altern. Und sein Körper ist verkrümmt. Kann mir jemand von Ihnen sagen, woher der Mann kam?«
Alle schüttelten den Kopf.
»Genau. Bisher können wir das noch nicht.« Ich durchsuchte seine Taschen, die sämtlich leer waren. Dann griff ich mir eine Schere und schnitt Hosen, Hemd und Unterwäsche auf. Ich legte alles, einschließlich seiner Schuhe neben den Marmortisch auf den Boden.
»Was erkennen wir jetzt?«, fragte ich die Gruppe.
»Er ist nackt!«, rief jemand, und alle mussten lachen.
»Sehr gute Beobachtung! Ich hätte meine Frage etwas anders formulieren sollen: Was können wir nicht sehen?«
Das war immer das Schwierigste: Abweichungen vom Muster zu erkennen. Wie erwartet, schauten alle ratlos drein, und niemand antwortete.
Ich gab einen Hinweis: »Wie infiziert man sich gewöhnlich mit Tetanus?«
»Durch eine tiefe Wunde«, antwortete jemand.
»Sehen Sie eine?«, fragte ich.
Die jungen Männer reckten ihre Hälse, dann schüttelten sie die Köpfe.
»Sollen wir ihn umdrehen?« Das taten wir, doch auch hier waren keine Wunden zu erkennen.
»Wie kann Tetanus noch in den Körper eindringen?«
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