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Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)

Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)

Titel: Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelie Wendeberg
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Haus wie viele andere.
    Wir stiegen die krummen Stufen hinauf in den ersten Stock. Die fehlenden Fensterscheiben waren durch schimmligen Karton oder mit Müll gefüllte Kartoffelsäcke ersetzt worden. Tageslicht streckte seine milchig-grauen Finger durch die Lücken und zeichnete den Verfall in harschen Farben nach.
    Wir gingen durch einen engen Flur und betraten ein Zimmer, das nach vergorenen Exkrementen roch. Ich blieb im Eingang stehen und blinzelte, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Die auf dem Boden verteilten Haufen stellten sich als Kinder heraus. Sie hoben die Köpfe, grinsten mich an und zeigten dabei unvollständige Reihen gelblich-schwarzer Zähne. In der Ecke lag eine Strohmatratze, die aussah, als hätte sie jemand totgeprügelt.

    Selbst wenn ich jeden Monat tausend Pfund verdient hätte, hätte ich das Leben in St. Giles damit kaum in etwas Annehmbares verwandeln können. Mehrere tausend Menschen lebten hier unter fürchterlichsten Bedingungen. Frauen gebaren ihre Kinder auf schmutzigen Treppenstufen oder unten auf der Straße. Die Überlebenschance ihrer Säuglinge betrug höchstens dreißig Prozent. Von diesen wiederum erreichten maximal ein Drittel das Erwachsenenalter, nur um dann bei Gewalttaten, an Krankheiten oder Unterernährung zu sterben.
    Barry und ich näherten uns dem bewegungslosen Bündel auf der Matratze.
    »Mum? Sie ist hier«, flüsterte der Junge.
    Die Decke bewegte sich. Ein Paar blaue Augen blickten in meine und verloren dann ihren Fokus.
    »Sally, was ist passiert?«, fragte ich.
    Sie nuschelte etwas Unverständliches.
    Ich berührte ihre Stirn – sie war glühend heiß. Dann zog ich die Decke weg und knöpfte ihr Kleid auf, um ihren Unterleib abzutasten. Milz und Leber waren vergrößert, und sie stöhnte, als ich meine Finger vorsichtig in das weiche Fleisch drückte. Ich nahm eine Kerze aus meiner Tasche, entzündete sie und hielt das Licht dichter an sie heran. Unterhalb des Brustkastens sah man rosafarbene Flecken.
    »Barry, redet sie manchmal seltsames Zeugs?«
    »Ja, Ma’am.«
    Er hatte mich noch nie vorher »Ma’am« genannt. Erstaunt sah ich ihn an. »Barry, deine Mama hat Typhus. Weißt du, was das ist?«
    Er nickte. Seine Augen waren vor Entsetzen ganz groß.
    Ich sah mich im Zimmer um. In der Wand war ein Loch, das irgendwann eine intakte Feuerstelle gewesensein musste. Der Gedanke an den nahenden Winter und meine kurz bevorstehende Reise nach Deutschland hinterließ den ätzenden Geschmack der Dringlichkeit auf meiner Zunge.
    Sie konnten hier noch nicht einmal ein Feuer machen, um den Raum ein wenig aufzuwärmen. Die beißende Kälte würde durch die unzulänglich verdeckten Fenster- und Türöffnungen und die verrotteten Wände eindringen, um jeden, der ihr nicht gewachsen war, in einen gefrorenen Leichnam zu verwandeln. Und egal wie sehr man betete, der Winter würde sich frühestens in sechs Monaten zurückziehen.
    Ich wandte mich wieder an den Jungen. »Barry, in einer Woche werde ich London verlassen. Du wirst ihr Krankenpfleger sein; ich werde dir zeigen, was du tun musst. Wir bringen sie morgen zu mir nach Hause, und dort kümmerst du dich um sie. Schaffst du das?«
    Sein Gesicht leuchtete auf, und er nickte eifrig.
    Am nächsten Tag trugen wir Sally in meine Wohnung. Ein Schwarm Kinder half, die selbstgebaute Pritsche zu tragen, auf der sie lag. Ich hatte eine Ecke zum Schlafen hergerichtet, mit sauberen Decken, einigen Kannen frischem Wasser und einem Nachttopf. Mehr konnten wir nicht für sie tun. Ich ließ Barry etwas Geld für Holz, Kohle und Nahrungsmittel da. Die beiden würden hier so lange im Warmen und Trockenen bleiben, bis sich seine Mutter besser fühlte. Oder bis ich zurückkam. Ich hoffte inständig, dass die dreißig anderen Bewohner von Barrys Haus meine Wohnung nicht okkupieren würden.

Kapitel Elf

    m 30. September begann ich meine Reise auf den Kontinent. Auf dem Schiff nach Hamburg las ich Watsons Eine Studie in Scharlachrot. Halb London schien Sherlock Holmes zu kennen, und ich hatte das Gefühl, ich müsste diese Wissenslücke schließen.
    Meine Reaktionen beim Lesen der Geschichte bescherten mir schräge Seitenblicke der anderen Passagiere. Als ich erfuhr, wie Holmes im Leichenschauhaus Tote auspeitschte, entfuhr mir ein lautes »Gütiger Himmel!«
    Als ich las, wie er Watson zu erklären versuchte, dass sein Hämoglobintest überaus spannend und bedeutsam war, musste ich laut lachen. Holmes schien aufgeregt

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