Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)
töten, sondern nur, um die eine Macht, die er nicht besaß, durch eine andere zu ersetzen. Außerdem wollte er mir ein Andenken an sich und an diese Nacht hinterlassen. Als ob ich das gebraucht hätte. Wie könnte jemand so etwas vergessen?« Ich schluckte. »Ich werde nie Kinder bekommen können.«
Holmes saß stocksteif da, und ich sah, wie seine Knöchel weiß wurden, als er die Hände um die Knie klammerte.
»Es ist vorbei. Und es verfolgt mich nicht mehr.«
Überrascht schaute er auf.
»Es ist mein Leben. Wie könnte ich es leben, wenn ich voller Hass wäre?«
»Aber du hast sie laufen lassen. Warum? Damit sie weiter vergewaltigen können?«, fragte er. Der leicht anklagende Ton verletzte mich nicht. Ich fühlte mich seltsam ausgeglichen.
»Nein. Die Kerle wissen, dass sie sich benehmen müssen.«
»Aber du lebst in London«, merkte er an.
»Ich habe Freunde. Sie werden mir eine Nachricht zukommen lassen, wenn es Zeit für einen Besuch sein sollte.«
Er schaute zweifelnd.
»Du hast mich noch nie wütend gesehen«, deutete ich an.
»Nein?«
»Nein. Zwei Wochen nach dem … Vorfall habe ich den Lauf der Schrotflinte meines Vaters abgesägt, sie mir unter die Jacke gesteckt und die Herrschaften besucht. Der Kerl, der das Messer benutzt hatte, machte den meistenÄrger. Ich musste ihm in den rechten Fuß schießen, um einen Eindruck zu hinterlassen. Er humpelt immer noch. Die beiden anderen haben mir sofort geglaubt, als ich ihnen sagte, ich würde sie mit der Schrotflinte kastrieren, wenn mir je zu Ohren kommen sollte, dass sie eine Frau ohne ihr Einverständnis berühren.«
Holmes zog die Augenbrauen hoch.
»Bist du schockiert?«, flüsterte ich.
»Nein.«
Seine Antwort war zu schnell gekommen, um glaubhaft zu sein, und er bemerkte es auch. Er schaute eine Weile in den Nachthimmel und brummte dann: »Es ist kompliziert.«
Ich wartete, doch er ging nicht weiter auf das Thema ein. Seltsamerweise wollte sich mein Herz nicht beruhigen. Es galoppierte wie ein Fohlen. Allmählich wurde mir das gänzliche Fehlen von physischer und emotionaler Distanz zu dem Mann neben mir bewusst.
»Ich bin auch schockiert«, flüsterte ich und stand auf, packte meinen Rucksack, ließ die Decke liegen, wo sie war, und ging zurück zum See.
Kapitel Zehn
m 10. September wurde ein Frauentorso unter einer Eisenbahnbrücke in der Pinchin Street gefunden. Über das Verbleiben der anderen Körperteile und die Identität des Opfers war nichts bekannt. Die Zeitungen waren voll davon, und ganz London verdächtigte Jack the Ripper. Bis auf Holmes. Whitechapel und jeder andere Slum Londons lief wieder einmal von Polizisten über. Von Anna zu Anton und wieder zurück zu wechseln, war unter diesen Bedingungen kompliziert und ermüdend.
Während der letzten Wochen hatte Holmes einen erheblichen Teil seiner Zeit als Armenhäusler verbracht. Unsere beiden Toten waren noch immer nicht identifiziert. Doch auch ich hatte andere Dinge zu tun, die meine ganze Aufmerksamkeit erforderten.
Ich hatte bei der Regierung erfolgreich ein Forschungsbudget beantragt, mit dem Ziel, Tetanuserreger zu isolieren. Die großzügige Förderung schloss auch einen Aufenthalt im Labor von Robert Koch in Berlin ein. Ende September würde ich London für drei Monate verlassen. Die Aussicht, meinen Vater wiederzusehen, machte mich ganz flatterig.
Trotz all dieser Aufregung hatte ich Bauchschmerzen – ich war sicher, dass sich die Neuigkeiten von meinem Tetanus-Forschungsbudget bereits herumgesprochen hatten. Die Männer hinter dem Broadmoor-Experiment mussten mich bereits im Visier haben.
Ich war zu Hause und schrubbte die Küche, als mich ein Klopfen unterbrach.
»Ja?«, rief ich, und die Tür öffnete sich quietschend. Barry stand im Türrahmen, ein Junge von zehn Jahren, unter der Schmutzschicht wachsbleich, mit zittrigen Händen.
»Was ist los?«, fragte ich und ließ den Lappen in den Eimer fallen.
»Meine Mutter«, krächzte er, »ist ganz doll krank!«
Ich schnappte mir die Arzttasche, und keine Minute später verließen wir die Wohnung.
Er wohnte um die Ecke, in einem zweistöckigen Haus, von dem der Schimmel schon vor Jahren Besitz ergriffen hatte. Der Abort, den sich mehr als dreißig Bewohner – allesamt in verschiedenen Stadien äußerster Armut – teilten, quoll über. Ohne eine einzige intakte Tür, geschweige denn ein verschließbares Fenster, waren die Bewohner das ganze Jahr dem Wetter ausgesetzt. Hier in St. Giles war es ein
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