Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)
wie ein Kind. Seine neu entwickelte Methode könnte in Zukunft helfen, Verbrechen aufzuklären. Leider war er ganz offensichtlich der Einzige, der das verstand. Die Situation fühlte sich so vertraut an.
Doch eigentlich war das gar nicht lustig.
Einige von Watsons Beschreibungen erlaubten einen flüchtigen Blick auf den Holmes, den ich kannte. Doch manchmal schien der Autor einen Fremden zu skizzieren. Ich dachte darüber nach, wie jeder Freund einen anderen Blickwinkel auf uns hat, jeder unseren Charakter auf seine Weise sehen und beschreiben würde. Es wäre ein außerordentliches Glück, einen Freund zu finden, der das eigene Wesen in seiner gesamten Komplexität erfassen und trotzdem alles daran respektieren könnte.
Ich muss gestehen, dass Watsons Erzählungen mir etwas auf die Nerven gingen. Erst beschreibt er augenfällige Symptome einer Vergiftung, diagnostiziert diese aber nicht. Dann bleibt seine Aufmerksamkeit an Oberflächlichkeiten hängen. Er findet es erwähnenswert, wie Leute gekleidet sind, welche Farbe ihre Augen haben oder wie die Tapeten am Schauplatz des Verbrechens beschaffen sind. Er sieht und beschreibt es, zieht aber keine Schlüsse daraus. Ich musste mich zusammenreißen, damit ich mir das Journal nicht gegen den Kopf schlug.
Ich fragte mich, wie zwei so unterschiedliche Männer Freunde sein konnten. Nach einer Weile glaubte ich, es zu verstehen. Holmes war, in gewisser Weise, der vorurteilsfreiste Mensch, dem ich je begegnet war. Er war in der Lage, Watsons Blindheit ganz einfach zu akzeptieren. Worin sich Watson in keiner Weise von den blinden neunundneunzig Prozent der Bevölkerung unterschied. Aber eines machte den Doktor ganz besonders: Er verübelte Holmes seine Denkschärfe nicht. Die anderen neunundneunzig Prozent mieden Holmes genau aus diesem Grund. Er gab ihnen das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein. Ich fragte mich, ob Watson sich neben Holmes manchmal klein und unbedeutend fühlte, dies aber für seine Freundschaft in Kauf nahm. Irgendwo in meinem seltsamen Herzen wuchs Respekt für den Mann.
in Zug brachte mich von Hamburg nach Berlin. Die Stadt kam in Sichtweite, und ich begann leicht zu zittern. Hier war ich promoviert worden. Es war eine Ausnahme gewesen – ich hatte an der Universität LeipzigMedizin studiert, jedoch einige Monate an der Charité gearbeitet, wo ich Robert Koch kennenlernte. Er war Mitglied meines Prüfungskomitees, und ihm zu Ehren hatte ich meine Dissertation in Berlin verteidigt.
Und hier hatte ich meine sogenannte Unschuld verloren. Aber es hatte keinen Sinn, alte Geschichten aus ihrem dunklen Versteck zu reißen.
Einer von Dr. von Behrings Studenten holte mich vom Bahnhof ab und zeigte mir meine Unterkunft. Um die Ecke nahm ich in einem kleinen Restaurant ein spätes Abendessen zu mir. Es war seltsam, die Leute Deutsch sprechen zu hören, und es fühlte sich gar nicht so recht wie meine Muttersprache an. Irgendwie klang es rau.
Nach dem Essen ging ich zurück auf mein Zimmer und schlief schnell ein, erschöpft von der langen Reise.
Am nächsten Morgen nahm ich die Pferdebahn zur Charité.
Obwohl mir noch alles vertraut war und ich viele aus der Belegschaft kannte, fühlte ich mich irgendwie winzig. Das Labor von Dr. Koch war das größte und am modernsten ausgestattete, das ich je gesehen hatte. Dr. von Behring, Spezialist für Diphterie, und Dr. Kitasato, Tetanusexperte, begrüßten mich freundlich. Mir wurde eine Ecke des Labors zugeteilt, ausgestattet nach meinen Bedürfnissen, und ein Assistent, den ich mir mit Dr. Kitasato teilte. Wir hatten das gemeinsame Ziel, Tetanuserreger zu isolieren – erster Schritt in der Entwicklung eines Impfstoffes.
Anstelle der traditionellen flüssigen Kulturmedien setzten wir eine neue Erfindung von Dr. Koch ein: feste, auf Gelatine basierte Kulturmedien. Ich war überrascht, wie sehr es die Produktion bakterieller Reinkulturen vereinfachte. Während ich mich auf die Isolation der Krankheitserreger selbst konzentrierte, würde Dr. Kitasato seine Zeit und Energie darauf verwenden, das Tetanustoxin zu charakterisieren, das vermutlich die typischen Muskelkrämpfe auslöste. Mit diesen komplementären Ansätzen hofften wir, den aufwendigen und zeitintensiven Weg der Impfstoffentwicklung abzukürzen.
Zwei Monate lang arbeiteten wir rund um die Uhr. Zweimal erwachte ich mit dem Kopf auf meiner Laborbank, aber meist war ich nur kurz davor, vom Stuhl zu kippen. Während dieser Zeit intensiver Arbeit
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