Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall
Kaltenbach einen Zweig zur Seite, um besser sehen zu können. Der Mann stand einige Sekunden still. Dann breitete er langsam beide Arme aus und führte sie zum wolkenverhangenen Himmel empor. Gleichzeitig hob er sein Gesicht und Kaltenbach konnte erkennen, wie er seine Lippen bewegte. Wieder verharrte der Mann eine Weile in dieser Haltung, die Kaltenbach an einen Priester erinnerte. Schließlich griff er in seine Manteltasche und holte etwas heraus. Kaltenbach sah für einen Moment ein metallenes Glitzern, als der Hakennasige den Gegenstand wie eine Hostie mit beiden Händen zum Himmel hob und anschließend mit einer würdevollen Bewegung ins Grab warf. Noch einmal blieb der Mann ein paar Sekunden stehen, dann wandte er sich um und ging rasch in Richtung Friedhofsausgang.
Als Kaltenbach aus seinem Versteck herauskam, konnte er gerade noch erkennen, wie der Hagere in einen bulligen Geländewagen stieg und den Wöplinsberg hinunterfuhr. Er war verblüfft. Was hatte das zu bedeuten? Er ging zurück zum offenen Grab. Die Erde und die Blumen, die die Trauergäste auf den Holzdeckel geworfen hatten, waren zu einer vermatschten und unansehnlichen Masse geworden. Dazwischen sah er etwas Glänzendes. Ein Kreuz vielleicht? Ein Andenken, eine Erinnerung an einen Freund?
In diesem Moment hörte er Stimmen hinter sich, die nicht gerade freundlich klangen.
»Schisswetter, mischtigs! Un mir mehn schaffe!« Es waren zwei der Uniformierten, die zuvor den Sarg auf dem Wagen zum Grab gerollt hatten. Statt der Uniformen trugen sie jetzt grobe graue Overalls, Gummistiefel und knallgelbe Regenjacken. Jeder hielt eine Schaufel in der Hand.
Als sie Kaltenbach sahen, besserte sich ihre Laune keineswegs. »Kennte mir emol afange?«
In Kaltenbachs Kopf formte sich blitzartig eine Idee. »Es tut mir leid, meine Herren«, sagte er freundlich und zeigte in das Grab. »Mir ist gerade etwas hinuntergefallen, und ich weiß nicht, wie ich es wieder herausbekommen soll! Dort unten, das Glitzernde. Zwischen den Blumen!« Er setzte den verzweifeltsten Hundeblick auf, zu dem er in der Lage war. »Ich kann ja schlecht hinuntersteigen.«
»Au des noch.« Der Jüngere der beiden fluchte, doch sein Begleiter grinste. »Loss nur Karli, due siehsch, der isch noch verruggter wie mir.«
Mit einem pietätlosen Satz sprang er hinunter, wühlte ein wenig in der nassen Erde und ließ sich dann von seinem Kompagnon wieder hinaufziehen.
»Do hesch!« Er reichte Kaltenbach den kleinen metallenen Gegenstand. »Un ’s negscht Mol bassesch besser uff, sunsch kaisch noch selwer nii!« Die beiden brachen in ein meckerndes Gelächter aus, das Kaltenbach aber nicht weiter beachtete. Er bedankte sich, so freundlich es ging, steckte das Ding in die Tasche und ging rasch davon.
Dienstag, 27. Februar, morgens
Am Dienstagmorgen war Kaltenbach damit beschäftigt, die Lieferung aus Sizilien durchzusehen. Sechs Kartons Rotwein, eine Besonderheit, die er durch Zufall bei einem befreundeten Händler in Müllheim kennengelernt hatte und die er nun seit ein paar Jahren selbst im Sortiment führte. Die schlanken Flaschen aus dem kleinen Weingut in der Nähe von Catania kosteten Kaltenbach ein kleines Vermögen. Doch er hatte sehr bald ein paar begeisterte Liebhaber gefunden, die den glühenden Tropfen von den Hängen des Ätna schätzten. Fünf der sechs Kisten waren wie in jedem Jahr vorbestellt.
Kurz nach neun klingelte der kleine Schellenbaum an der Ladentür. Herbert Schramm, Wirt der in derselben Straße gelegenen ›Lammstube‹, kam gleich zur Sache.
»Wo warst du gestern morgen? Mir ist der Müller ausgegangen!«
Kaltenbach legte die letzte Flasche in eines der rautenförmigen Holzregale neben dem Verkaufstisch.
»Beim Arzt.« Er humpelte demonstrativ nach vorn und schüttelte seinem Gast die Hand. »Knie verrenkt.«
»Machst du etwa Sport? Seit wann denn das?«, stichelte Herbert.
»Hab am Wochenende beim Training zu viel Gewicht aufgelegt«, gab Kaltenbach todernst zurück. Sein Missgeschick am Kandel behielt er für sich.
»Ja, beim Essen vielleicht.« Herbert grinste. »Komm, ich brauche zwei Kisten.«
»Dann hilf tragen.« Kaltenbach nickte mit dem Kopf in Richtung Tür, die ins Lager führte. »Du kennst ja den Weg.«
»Weißt du was? Ich nehme gleich noch einen Roten mit. Vorsichtshalber. Ortenauer. Ich hab mein Wägelchen dabei.« Gemeinsam beluden sie die Sackkarre, die vor der Tür an den kleinen Treppenaufgang gelehnt stand.
»So, die Herre,
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