Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall
er erhofft hatte. Hier in der Nacht in seinem dunklen Hausflur klang sie wie von einer anderen Welt.
›Ich habe es mir überlegt.‹
Sonntag, 4. März
Kaltenbach versuchte, die Augen zu öffnen. Die graue bleierne Masse, die ihn umgab, dämpfte sein Zeit- und Raumempfinden, sodass er nicht sagen konnte, wie spät es war. Einzig die Tatsache, dass in seinem Aquarium das Licht brannte, deutete darauf hin, dass die Nacht vorüber sein musste. Wo er normalerweise seinen Kopf und damit sein Denkvermögen lokalisierte, war ein hässliches Klopfen zu hören, das ihn widerstrebend in die Welt der schweren Augenlider und schmerzenden Knochen zurückzog. Den Platz seiner Zunge hatte wohl eine Ansammlung von trockenen Watteröllchen eingenommen, die sonst säuberlich gestapelt auf dem Beistelltisch seines Zahnarztes lagen.
Während er sich im Bett aufrichtete, kam dem penetranten Klopfen ein Schwindel zu Hilfe, um gemeinsam genüsslich auf Kaltenbachs spärlichem Morgenbewusstsein herumzutrampeln. Das bisschen, was davon schon einsatzbereit war, sagte ihm, dass er das letzte Glas nicht hätte trinken sollen. Doch was hatte die alte Eule Vernunft schon zu sagen, wenn zu vorgerückter Stunde der harte Kern der Geburtstagsfeiernden als Belohnung für seine Ausdauer die exklusive Verkostung von Walters zwölf Jahre altem ›Irish Malt‹ vornehmen durfte? Allein die Vorstellung davon ließ das Duett der beiden Kombattanten unter seiner Schädeldecke zum Crescendo anschwellen.
Nach mehreren Anläufen gelang es Kaltenbach, eine einigermaßen stabile Sitzhaltung zu finden. Neben dem Bett fand er den restlichen Saft von gestern Nacht. Er schmeckte warm und abgestanden, aber das war ihm egal. Das monotone Plätschern des Aquariums trieb ihn endgültig in die Höhe, und nachdem er sich um eine stattliche Menge flüssiger Nahrung erleichtert hatte, sah der Morgen schon etwas freundlicher aus.
Kaltenbach brühte sich einen starken Kaffee auf seiner italienischen Maschine, ging gleich darauf Duschen und trank anschließend zwei weitere Tassen. Eigentlich hätte er auch bei Walter übernachten können. Das Sofa und eine Decke hätten genügt, und er müsste jetzt nicht extra runterfahren. Seit Jahren gehörte es zu Walters Geburtstagsritual, nicht nur ein Fest zu geben, sondern eine Gruppe von Auserwählten am nächsten Morgen einzuladen. Ursprünglich war es Reginas Idee gewesen, die wenig Lust hatte, das Flaschen-, Geschirr- und Restechaos mit der spärlichen Hilfe ihres verkaterten Ehegatten aufzuräumen. Ein zu üppig dimensioniertes Spanferkel zu Walters Fünfzigstem war damals der Anlass gewesen, am Morgen danach ein paar Leute anzurufen und eine kombinierte Essens- und Aufräumaktion zu starten. Regina nannte es scherzhaft den ›Überlebensbrunch‹. Dass daraus ihr wöchentlicher Stammtisch entstehen würde, war ein damals nicht voraussehbarer Nebeneffekt.
Kaltenbach sah zum ersten Mal an diesem Tag auf die Uhr. Es war halb zehn, Zeit genug, mit der Vespa in die Stadt runterzufahren und nicht der Letzte zu sein, denn diese Rolle war traditionsgemäß Markus überlassen.
Allmählich ordneten sich seine Gedanken wieder. Der Abend bei Walter und Regina hatte Kaltenbach wie jedes Jahr gut gefallen. Essen, Trinken und Quatschen in entspannter Atmosphäre mit netten Leuten, das war ganz nach seinem Geschmack. Er hatte sich so ungezwungen gefühlt wie lange nicht mehr. Im letzten Jahr war Monika noch dabei gewesen, und er stellte zu seiner Überraschung und Zufriedenheit fest, dass er sie nicht vermisste. Es war gut so, er musste aktiv werden, er musste wieder mehr unter Menschen gehen. Eine Band gründen, das war keine schlechte Idee. Die Musik war schon immer ein Türöffner gewesen seit den Freiburger Zeiten, als er die Studentinnenherzen mit Leonard Cohen und Neil Young zum Schmelzen gebracht hatte.
Im selben Moment fiel ihm ein, dass Luise gestern auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Er fuhr ruckartig hoch. Im nächsten Augenblick stand er im Flur und versuchte sich zu erinnern, wie man die gespeicherten Nachrichten erneut anhören konnte. Er musste unbedingt noch einmal genau hören, was sie gesagt hatte. Nach ein paar vergeblichen Versuchen vernahm er die ewig junge Frauenstimme. ›Keine neuen Nachrichten. Sie haben 17 alte Nachrichten. Ihre alten Nachrichten. Nachricht eins.‹ Nach einem Tuten hörte er die Stimme von Dieter, der sich nach dem Stammtisch von letzten Freitag erkundigte. Nun wurde er noch
Weitere Kostenlose Bücher