Teufelskuss und Engelszunge - Jones, E: Teufelskuss und Engelszunge
Gebäude hinter sich gelassen hatten und an die frische Luft gelangt waren. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Sie erwartete, von der Sonne geblendet zu werden. Stattdessen schien der volle Mond von dem nachtblauen Firmament auf sie herab. Eisige Kälte schlich sich von ihren nackten Fußsohlen an ihren Beinen herauf. Erst da bemerkte sie, dass Ben von ihr abgelassen hatte. Nun stand er zwei Schritte von ihr entfernt und erkundete offenbar die Umgebung.
»Mir ist kalt«, beschwerte sie sich und kam sich gleich, nachdem sie das ausgesprochen hatte, unglaublich albern vor.
Ben hingegen zuckte nur mit den Schultern. Er sah sie nicht einmal an, als er zu ihr sprach: »Ja, wir müssen dir andere Kleidung beschaffen. Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht.«
Marafella schaute an sich herab. Was stimmte denn nicht mit ihrem Engelskleid?
»So läuft kein Mensch rum«, sagte er, als hätte er ihre stumme Frage gehört. »Sie werden dich anstarren und auslachen. Vielleicht werden sie dich sogar wegsperren wollen, weil sie dich für verrückt halten.«
»Das verstehe ich nicht«, murmelte Marafella, und tatsächlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, wovon Ben da eigentlich redete. Zwar hatte sie während ihrer Zeit als Seelensammlerin schon viele Menschen gesehen, wusste aber nichts über deren Verhaltensweisen. Sie erinnerte sich allerdings an die Kleidung der Menschen. Sie war so ähnlich wie jene, die Ben trug. Aber woher sollte sie die bekommen? Soweit sie die Menschen einschätzte, liefen die nicht auf der Straße herum und verteilten Kleidung an verirrte Engel. Marafella erstarrte, als ihr etwas Entscheidendes bewusst wurde: Warum war Ben allem Anschein nach so überzeugt davon, dass die Menschen sie sehen konnten?
Zwischenzeitlich hatte er sich ihr wieder zugewandt, und sie blickte ihn an, fixierte seine Augen, die so dunkel und tief schienen, wie ein See, dessen Grund man nicht erfassen konnte.
»Was passiert mit uns?«, hauchte sie.
Ben lächelte sie an. Es war ein zärtliches Lächeln, das Marafella voll und ganz gefangen nahm. »Nun ja«, setzte er zu einer Erklärung an, »für eine Weile sind wir so etwas wie sterblich. – Das ist der Preis, wenn wir die Erde ohne Auftrag besuchen.«
Marafella war nicht nur schockiert, sie glaubte, jeden Augenblick in Panik verfallen zu müssen. Wie sollte sie denn auch nur einen Tag als Sterbliche auf der Erde überleben? Sie hatte doch keine Ahnung wie es war – wahrhaftig zu leben.
8.
Marafella stellte schnell fest, dass es in der Welt weitaus hektischer, lauter und voller zuging, als sie bislang geahnt hatte. Ben brachte sie von dem Hinterhof fort, kehrte mit ihr in eine belebte Straßenzeile. Überall waren Menschen, Autos und so viele bunte Lichter, dass Marafella ganz schwindelig wurde. Mehr als einmal wurde sie angerempelt. Ihre Glieder schmerzten schnell, vor allem aber ihre nackten Füße, die empfindlich reagierten, egal, wohin sie trat.
Sie kamen auf ein großes Gebäude zu, das einzig und allein aus einer Vielzahl an Glühbirnen zu bestehen schien. Die blinkten unaufhörlich, zeigten abwechselnd die Figur einer überdimensionalen Getränkeflasche und einen Schriftzug, den Marafella nicht klar lesen konnte. Ihr wurde schwummerig. Alles vor ihren Augen zerfloss plötzlich zu einem einzigen zermatschten grellfarbenen Bild. Sie streckte eine Hand nach Ben aus, rief seinen Namen. Dann wurde sie auch schon ohnmächtig.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?« Die Stimme hallte aus weiter Ferne wie ein Echo in Marafellas Kopf wider. Sie glaubte, es sei ein Traum und wollte dem keine weitere Beachtung schenken. In ihrem Rücken spürte sie die angenehme Wärme einer kuscheligen Wolke und lehnte sich darin zurück. Alles war in Ordnung, seufzte sie innerlich. Sie wollte schlafen – nur schlafen, und den Frieden des Himmelsreiches genießen.
Aber der Traum wurde intensiver und die Stimme energisch: »Wie kannst du das arme unschuldige Mädchen ausgerechnet in eine Stadt wie diese bringen? – London.« Sie lachte bitter auf. »Wie soll sie denn hier überleben? – Ein Engel. Pfff…«
»Ich habe das wohl nicht richtig durchdacht«, sagte eine zweite, rauchige Stimme, die Marafella seltsam bekannt vorkam. War das am Ende doch kein Traum?
»Aber jetzt ist es zu spät. Wie du siehst sind wir hier – und wir brauchen deine Hilfe.« Er zögerte, holte einen tiefen Atemzug, bevor er ein weiteres Wort hinzufügte: »Bitte.«
»Nun gut«, gab sich die Erste
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