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Teufelsleib

Titel: Teufelsleib Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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wohl auch, die sie letztlich auf die Straße trieben. Sie hatte nur wenig Hoffnung, sie jemals wiederzusehen, denn sie wusste aus den Medien und von der Polizei, dass die meisten dieser Jugendlichen dieses Leben nicht aufgeben wollten oder konnten, weil sie schon zu tief abgerutscht waren. In einem Monat würde Iris achtzehn werden, und dann gab es niemanden mehr, der ihr Vorschriften machen konnte.
    Glücklicherweise hatte Yvonne noch eine ältere Schwester, mit der sie sich blendend verstand und der es lange vor ihr gelungen war, der Tristesse der Hochhaussiedlung zu entkommen. Sie lebte in einem schmucken Eigenheim in Bieber, war seit dreizehn Jahren mit einem Lehrer verheiratet, doch der einzige große Wunsch war ihnen bisher verwehrt geblieben – Kinder. Sie hatte sich eine Familie mit mindestens drei Kindern gewünscht, aber nun war sie vierunddreißig, und die Uhr tickte. Sie und ihr Mann hatten beschlossen, sollte sich innerhalb der nächsten zwei Jahre kein Nachwuchs einstellen, würden sie ein oder zwei Kinder adoptieren.
    Ihre Eltern hingegen erfüllten geradezu perfekt das Klischee der Unterschicht, sie stritten und vertrugen sich, qualmten wie die Schlote, tranken viel zu viel und ließen sich vom Staat ernähren. In Yvonnes Augen ein sinnloses Leben, wenn es denn überhaupt noch als solches zu bezeichnen war.
    Sofern es Yvonnes Terminkalender zuließ, besuchte sie ihre Familie ein- oder zweimal im Monat, ohne dass einer von ihnen ahnte, womit sie ihr Geld verdiente. Sie ließ sie in dem Glauben, in einer Reinigungsfirma zu arbeiten, und niemand aus ihrer Familie würde sich die Mühe machen, dies nachzuprüfen oder nach dem Namen der Firma zu fragen. Sie hatte sich von ihren Eltern und ihren jüngeren Geschwistern entfernt, Universen lagen zwischen ihnen. Wenn sie zu ihnen kam, dann nur aus Anstand und Höflichkeit, obwohl sie mittlerweile selbst diese wenigen und kurzen Besuche hasste, da immer nur unsinniges, oberflächliches Zeug geredet wurde. Sie begriff nicht, wie sie sich mit ihrem Leben abfinden konnten. Seit ihr Vater nach einem schweren Arbeitsunfall vor zwölf Jahren berufsunfähig geworden war, lebten sie nur noch in den Tag hinein. Er jammerte in einem fort, wie schlecht es ihm ging, ihre Mutter war fett geworden, das Gesicht vom Alkohol aufgedunsen, die Wohnung stank nach Rauch, überall Bier-, Wein- und Schnapsflaschen, schmutziges Geschirr in der Spüle, ein überquellender stinkender Mülleimer. Die Fenster seit Ewigkeiten nicht geputzt, keine Blumen, der Balkon eine einzige Müllhalde.
    An diesem Sonntag würde der ursprünglich geplante kurze Besuch bei ihren Eltern ausfallen, da ihr Lieblingskunde sie kurzfristig gebucht hatte. Sie würde sich also nicht die C&A-Klamotten anziehen, sondern sich in Schale werfen. Sie würde keine Flaschen alkoholischer Getränke anschleppen müssen, womit sie ihren Eltern und dem Bruder die größte Freude bereiten konnte, und nicht über Nichtigkeiten sprechen. Man hätte sie nach ihrer Arbeit gefragt, scheinbar interessiert und doch desinteressiert, und sie hätte ihnen vorgejammert, wie schlecht die Bezahlung sei.
    Und selbst wenn sie ihnen gesagt hätte, womit sie in Wirklichkeit ihr Geld verdiente, hätten sie nur mit den Schultern gezuckt und gleichzeitig nach einer Möglichkeit gesucht, sie um Geld anzugehen. Sie hatten sich auch schon manches Mal fünfzig oder hundert Euro geliehen, ohne dass Yvonne bisher auch nur einen Cent davon wiedergesehen hätte. Sie war neben ihrer Schwester die Einzige, die sich aus dem sozialen Abseits befreit hatte, obwohl es bis vor wenigen Jahren noch überhaupt nicht danach ausgesehen hatte.
    Sie hatte die mittlere Reife gemacht und sich unbemerkt von allen permanent weitergebildet, sprach fließend Englisch und Französisch und konnte sich auch auf Spanisch recht gut unterhalten, ohne jemals in einer dieser Sprachen einen Abschluss gemacht zu haben. Sie hatte eine Anstellung in einer Reinigungsfirma gefunden und eines Tages ein Angebot erhalten, das in ihren Ohren anfangs verrucht klang, doch bei näherem Betrachten sehr verlockend war. Es war der Beginn eines Lebens, von dem sie früher nur hatte träumen können. Sie stand urplötzlich auf der Sonnenseite des Lebens, verdiente mehr Geld als die meisten Menschen in diesem Land, Geld, von dem sie jeden Monat mindestens die Hälfte auf die hohe Kante legte, denn sie war sich dessen bewusst, dass ihr Job befristet war. In spätestens zehn Jahren würde sie nicht

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